Sexualmedizin als Zusatzweiterbildung nach der Weiterbildungsordnung 2020

Die Frage „Sind Sie zufrieden mit Ihrem Sexleben oder soll sich etwas ändern?“ sollte in einem ärztlichen Anamnesegespräch nicht fehlen. Trotz eventuell erlebter Peinlichkeit möchten Patient*innen von ihren Ärzt*innen zur Sexualität befragt werden [1]. Gleichzeitig werden nur in den seltensten Fällen Sexualanamnesen durchgeführt – 85 % der Frauen und 98 % der Männer gaben an, dass noch nie eine Sexualanamnese bei ihnen erhoben wurde [2]. Als Hauptproblem der Nicht-Thematisierung wurden von Hausärzt*innen neben der Annahme, dass das Thema den Patient*innen unangenehm sein könnte, Zeitmangel, unterschiedliche Geschlechtszugehörigkeit, aber vor allem die eigene Unsicherheit genannt [3]. Nicht verwunderlich, da die Sexualmedizin in der universitären Ausbildung zumeist eine untergeordnete Rolle spielt bzw. lediglich im Rahmen von Modellprojekten thematisiert wird.

Sexuelles Wohlbefinden

Sexualmedizin beschäftigt sich als Teilgebiet der Medizin mit allen Aspekten, die der Erhaltung und Förderung der sexuellen Gesundheit dienen. Als klinisches Fach umfasst es die „Erkennung, Behandlung, Prävention und Rehabilitation von Störungen oder Erkrankungen, welche die sexuellen Funktionen, das sexuelle und/oder partnerschaftliche Erleben und Verhalten sowie die geschlechtliche Identität betreffen“ [4, S. 6]. In einem interdisziplinären Diskurs verbindet Sexualmedizin verschiedene medizinische Fachrichtungen und integriert relevante Aspekte der benachbarten Humanwissenschaften wie auch verschiedener Psychotherapieschulen. Die sexuelle Gesundheit „ist ein Zustand vollständigen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens in Bezug auf Sexualität und ist direkt mit Fragen von Menschenrechten und Lebensqualität verknüpft“ [5].

Das sexuelle Wohlbefinden entsteht in einem Gleichgewicht aus körperlichen, psychischen und sozialen Faktoren, die sich gegenseitig positiv, aber auch negativ beeinflussen können. Auch die Biografie des Menschen prägt die individuelle Ausgestaltung der Sexualität. Sexualität ist mehrdimensional und multifunktional, und deren drei Dimensionen bilden die Grundlage, um sexuelle Gesundheit wie auch Störungen zu erfassen. Neben der Lust- und der Fortpflanzungsdimension ist es die Beziehungsdimension, die Befriedigung psychosozialer Grundbedürfnisse wie Akzeptanz, Nähe, Sicherheit und Geborgenheit [6]. Sexuelle Funktionsstörungen tangieren zumeist nicht nur die Fortpflanzungs- und Lustdimension, sondern wirken sich auch auf die Beziehungsdimension aus. In dieser Vielschichtigkeit fokussiert die Sexualmedizin ebenfalls auf Beziehungsaspekte sexueller Störungen, sodass sich der therapeutische Fokus von einer individuumzentrierten Sichtweise unter Einbezug der Partner*innen auf das Paar als Patienten verschiebt.

Drei Gruppen von Sexualstörungen

Im aktuellen medizinischen Klassifikationssystem werden im Wesentlichen drei Gruppen von Sexualstörungen unterschieden: die sexuellen Funktionsstörungen, die Störungen der Sexualpräferenz sowie die Störungen der Geschlechtsidentität. Erweiternd sind für das Indikationsgebiet die Störungen der sexuellen Entwicklung und der sexuellen Reproduktion zu nennen. Einzelne Störungen können sich gegenseitig bedingen oder überlappend auftreten. So kann z. B. eine in das Selbstbild nicht integrierte sexuelle Präferenzstörung zu sexuellen Funktionsstörungen, z. B. zur Erektionsstörung, führen.

Die sexuellen Funktionsstörungen lassen sich nach ihrem Auftreten während des sexuellen Reaktionszyklus den Phasen Appetenz, Erregung, Orgasmus und Entspannung zuordnen. Neben den Luststörungen werden unter anderem Krankheitsbilder wie die Ejaculatio praecox oder Erektionsstörung beim Mann oder die Lubrikationsstörung, der Vaginismus und die Dyspareunie bei den Frauen darunter subsumiert. Nach dem Männergesundheitsbericht leidet jeder vierte Mann mit dem Primärsymptom einer Erektionsstörung unter einem noch unerkannten Diabetes mellitus, jeder dritte weist eine relevante unerkannte Koronarstenose auf [7].

In Befragungen stehen hohe Prävalenzraten sexueller Funktionsstörungen, 40–45 % bei Frauen und 20–30 % bei Männern [8], hohen Zahlen unbehandelter Patient*innen mit sexueller Dysfunktion, 85 % der Frauen und 91 % der Männer, gegenüber [2]. Menschen mit sexuellen Funktionsstörungen geben eine beeinträchtigte Lebensqualität sowie höhere Depressionswerte als Personen ohne eine solche Störung an.

Störungen der Sexualpräferenz oder Paraphilien beschreiben ein von der sogenannten Norm abweichendes sexuelles Interesse oder abweichende Verhaltensweisen. Die Frage nach einer Veränderbarkeit des paraphilen Interesses gilt heute als empirisch ungeklärt [9]. Die Betroffenen leiden unter einem intensiven und anhaltenden sexuellen Bedürfnis, das nicht auf genitale Stimulation oder sexuelle Handlungen mit einwilligenden Erwachsenen orientiert ist. In der Regel richtet sich das Begehren auf nichtmenschliche Objekte, das Leiden bzw. die Demütigung von sich selbst bzw. Anderen oder auf Kinder bzw. nicht einwilligende Personen. Diagnostisch relevant ist, ob das sexuelle Interesse zu Leidensdruck und/oder Fremdgefährdung führt, strafrechtlich relevant ist, ob es zur Grenzverletzung durch das Interesse kommt. Die Verletzungen des Wohls oder der sexuellen Selbstbestimmung einer anderen Person werden auch als Störungen des sexuellen Verhaltens oder als Dissexualtität [6] bezeichnet.

Eine Störung der Geschlechtsidentität, im bevorstehenden ICD-11 passender als Geschlechtsingonkruenz (GIK) bezeichnet, beschreibt eine anhaltende Unstimmigkeit zwischen dem individuell erlebten und dem zugewiesenen Geschlecht, Geschlechtsdysphorie das daraus resultierende Leiden. Die individuellen Entwicklungen können ganz unterschiedlich verlaufen. Behandlungssuchende sollen partizipativ beraten und zur ergebnisoffenen Erforschung ihrer Geschlechtsidentität wie auch ihrer sexuellen Orientierung ermutigt werden [10], Endergebnis des Prozesses soll offen sein, binäre wie non-binäre Identitäten sind denkbar. Ein Umgang mit Stigma wird bedeutsam, da die GIK grundlegend ähnlich der Intersexualität die in unserer Kultur bisher als selbstverständlich angesehene, binäre Geschlechterordnung aufweicht.

Sexualität und gesellschaftlicher Diskurs

Letztendlich hängt die Beurteilung einer sexuellen Störung auch davon ab, wer mit wem wann in welchem Kontext und mit welchem Ziel in Kontakt tritt. Diagnosen resp. deren (Ent-)Pathologisierung ändern sich, gerade am Beispiel „Geschlechtsidentität“ war jüngst in der medialen Debatte ein kontroverser Diskurs beobachtbar. Nach der ersten sexuellen Revolution um die Jahrhundertwende, bei der ein Sexualleben jenseits der Fortpflanzungsdimension gewissermaßen Mann und Frau zugestanden wurde, kam eine zweite sexuelle Revolution, bei der Sexualität durch die 68er mit einer gewissen Mächtigkeit – vermeintlich eine ganze Gesellschaft zu stürzen – ausgestattet wurde. Nun beschreibt der Sexualwissenschaftler Sigusch eine dritte, eher leise und langsam daherkommende neosexuelle Revolution, bei der die so genannten Paläosexualitäten auseinandergelegt und neu zusammengesetzt werden. Es entstehen Neosexualitäten, Neoallianzen und Neogeschlechter [11], die, um nur einige zu nennen, in Agender, liquid gender, Pansexualität, Internetsexualität, Non-Binarität oder polyamoren Konstrukten ihren Ausdruck finden können. Zuweilen lässt sich kaum Schritt halten mit dem, was Zeitgeist vorgibt oder gesellschaftlicher Diskurs bestimmt. Nicht zu vernachlässigen ist in diesem Zusammenhang das psychoedukative Potenzial im ärztlichen Gespräch, um medial vermittelte Zerrbilder von vermeintlich gutem Sex zu relativieren.

Erwerb der Zusatzbezeichnung

Unter Moderation der Bundesärztekammer wurde folgerichtig mit Vertretern verschiedener Fachgesellschaften ein Vorschlag für einen Gegenstandskatalog „Sexualmedizin“ erarbeitet.

Zu dessen Mindestanforderungen für den Erwerb der Zusatzbezeichnung gehören neben 80 Stunden Kurs-Weiterbildung (WB) in Psychosomatischer Grundversorgung oder der Zusatz-WB in Psychotherapie und Psychoanalyse 120 Stunden Kurs-WB in Sexualmedizin sowie 120 Stunden Fallseminare unter Supervision. Es werden systematisch Kenntnisse und Fertigkeiten für Diagnostik und Therapie von Störungsbildern in den Indikationsgebieten der Sexualmedizin vermittelt. Neben einer positiven Grundeinstellung zur Auseinandersetzung mit dem Thema Sexualität bedarf es bei den Behandler*innen Kenntnisse über die Vielfalt sexueller Phänomene sowie eine Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität.

Ab September 2021 bietet die Akademie für Ärztliche Fort- und Weiterbildung der Landesärztekammer Hessen einen Basiskurs an, der als Modul 1 (von 3) der Zusatz-Weiterbildung „Sexualmedizin“ angelegt ist (siehe Infokasten). Der Kurs vermittelt Ärzt*innen eine Basiskompetenz in sexualmedizinischen Fragen und befähigt die Teilnehmer*innen, eine Sexualanamnese durchzuführen sowie die Weichen für eine spezielle sexualmedizinische Weiterbehandlung zu stellen.

Dr. med. Ute Engelbach, Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Sexualmedizin, Universitätsklinikum Frankfurt

Basiskurs Sexualmedizin

Termine:

Modul 1 –Teil A: Fr., 17.–Sa., 18. September 2021

Modul 1 –Teil B: Fr., 19.–Sa., 20. November 2021

Modul 1 –Teil C: Fr., 11.–Sa., 12. Februar 2022

Information und Anmeldung:

Andrea Flören, Akademie für Ärztliche Fort- und Weiterbildung der LÄKH, Fon: 06032 782-238, E-Mail: andrea.floeren@laekh.de, www.akademie-laekh.de