Die jüngere Zeit hat gezeigt, dass die Patientenströme sich vergrößert haben, und Arztpraxen, der ärztliche Bereitschaftsdienst und Klinikaufnahmen an ihre Kapazitätsgrenzen gelangt sind. Das liegt einerseits an der Zunahme der Morbidität in der Bevölkerung, aber auch an Ärzte- und Fachkräftemangel. Dazu kommen umherirrende Patienten, die selbstständig ohne passende Indikation oder mit Bagatellanlässen Facharztpraxen und Notaufnahmen anlaufen, und somit die Terminkalender der Fachärzte sowie die Notaufnahmen der Kliniken verstopfen. Dies erzeugt eine scheinbare Terminknappheit bei Fachärzten, die es durch eine gezielte Patientensteuerung nicht gäbe. So wird die angemessene Versorgung von medizinisch notwendig zu versorgenden Patienten blockiert. Medizinische Akutfälle sind davon ausgenommen, denn diese sind einer Steuerung durch den Rettungsdienst oder den ärztlichen Bereitschaftsdienst unterworfen.

Unwissenheit der Patienten

Das alles geschieht teils aus Unwissenheit der Patienten, aber auch durch übermäßiges Anspruchsdenken einer zunehmenden Schar an Patienten, die mit einer „all-inclusive“-Mentalität durchs Leben gehen. Sie haben ihre Krankenkassenbeiträge bezahlt und wollen diese auch ausschöpfen. Das hört man in den Hausarztpraxen tatsächlich öfter. Sobald es ihnen in den Sinn kommt, möchten diese Patienten jedes Quartal genau zu den Fachärzten gehen, die sie ihrer Meinung nach akut brauchen, und dass zu jeder Tageszeit. Hinzu kommt, dass laut Statistiken des Zi* 50 % der Patienten mehr als einen Hausarzt im Quartal konsultierten. So kommt es zu einer Überlastung des Gesundheitssystems mit drohendem Kollaps. All dies wird dadurch ermöglicht, dass in diesem System die freie Arztwahl bedingungslos fixiert ist.

„Der Primärarzt hilft bei der Abklärung und Erstversorgung der Patienten“

Doch bereits seit 2004 gibt es gesetzlich die Möglichkeit eines freiwilligen Primärarztsystems in Form der hausarztzentrierten Versorgung, in der sich Patienten freiwillig eine fixe Hausarztpraxis aussuchen. In Deutschland sind aktuell ungefähr 12 % der Patienten dort eingeschrieben. Überweisungen an Fachärzte und Zuweisungen an Kliniken werden nur nach Erstanamnese und Untersuchung durch den Primärversorger ausgestellt. Die aktuelle Regierung hat in ihrem Programm für die Legislatur 2025–2029 die Umsetzung eines Primärarztsystems beschlossen (CDU), wobei aktuell noch die Modalitäten zu klären sind, da der Begriff „Primärarztsystem“ in Deutschland bis zum heutigen Tage nicht genau definiert ist.

Primärarztsysteme international eher die Regel

International sind Primärarztsysteme eher die Regel als die Ausnahme (Italien, Spanien, England, Niederlande, Frankreich, Dänemark, Finnland und Norwegen). Hier sind bis zu 90 % der Bevölkerung in eine hausarztgesteuerte Primärversorgung mit gesetzlichen oder freiwilligen Vorgaben eingeschrieben. Schon 2008 empfahl die WHO (Weltgesundheitsorganisation) eine stärkere Fokussierung der Gesundheitssysteme der Mitgliedsstaaten auf eine Primärarztversorgung, um Patienten effektiv zu versorgen.

Stattdessen findet man in Deutschland Patienten nachts in der Notaufnahme, weil sie der schon seit drei Wochen geeiterte Zeh genau jetzt stört und sie nun Zeit haben. Oder die dreitägige Badeohrotitis muss bis zum HNO-Termin warten, obwohl eine Hausarztpraxis sie genauso gut sofort versorgen könnte, wenn der Patient da mal nachgefragt hätte. Dies führt zu einem Irrweg durch das deutsche Gesundheitssystem und kann sogar gefährlich werden. Genau diese Patienten bedürfen dringend einer Steuerung.

In einem solchen Fall wäre der erste Gang in eine Hausarztpraxis als erster Ansprechpartner hilfreich gewesen, wo durch schnelle Diagnostik aufgrund der allgemeinmedizinischen Expertise und Kompetenz direkt eine Patientensteuerung vorgenommen werden kann. Ein gut durchorganisiertes Primärarztsystem liefert solch eine vorbildliche Steuerung. Natürlich darf man sich ein Primärarztsystem nicht nur auf das Ausstellen eines Überweisungsscheines reduziert vorstellen.

Der Primärarzt hilft bei der Abklärung und Erstversorgung der Patienten. In der Regel kann er auch eine abschließende Behandlung durchführen bzw. sollte darüber hinaus weitere Unterstützung notwendig sein, können Gebietsfachärzte hinzugezogen werden. In einem solchen System würden eben nicht Patienten in der Medizinlandschaft herumirren, Termine blockieren, Zeit und Personal durch Mehrfachkonsultationen binden und unnötig die klammen Kassen der gesetzlichen Krankenkassen belasten.

Um die Bevölkerung an ein angepasstes Verhalten heranzuführen, gehört auch eine politische Ehrlichkeit, in der man nicht mehr verspricht, dass zu jeder Tageszeit jedermann alle möglichen ärztlichen Leistungen erhält. Hiervon sind echte Notfälle natürlich ausgenommen. Dazu zählt auch ein Mentalitätswechsel bei der Bevölkerung und allen Beteiligten des Gesundheitssystems. Gesundheitsschulungen an Kindergärten und Schulen wären ein Anfang. Damit macht man sich als Politiker nicht beliebt, aber ein Umdenken ist notwendig.

Jutta Willert-Jacob, Präsidiumsmitglied der Landesärztekammer Hessen

Die Literaturhinweise finden Sie hier.

*www.versorgungsatlas.de – Der Versorgungsatlas ist ein Angebot des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland (Zi) und bietet Informationen zur medizinischen Versorgung.