Die ePA gilt als zentrales Digitalisierungsprojekt im deutschen Gesundheitswesen. Politik, Kassen und IT-Branche preisen sie als Instrument für bessere Versorgung, Effizienz und Fortschritt. Beim 168. Bad Nauheimer Gespräch beleuchteten der Psychiater Dr. Andreas Meißner und der Hessische Datenschutzbeauftragte Dr. Nils Gaebel die ePA aus unterschiedlichen Blickwinkeln – mit ähnlichen kritischen Ergebnissen. Die Veranstaltung wurde vom Förderkreis Bad Nauheimer Gespräche e. V. organisiert und von Prof. Dr. med. Ursel Heudorf, erstes Geschäftsführendes Vorstandsmitglied, moderiert.
Mehr Aufwand statt Nutzen
Ziel der ePA ist eine bessere medizinische Versorgung: Befunde und Medikationspläne sollen schnell verfügbar sein – etwa bei Arztwechseln oder Notfällen. Doch dieser Nutzen bleibt laut Meißner bislang aus. Stattdessen berichten viele Ärztinnen und Ärzte von „Mehraufwand statt Mehrwert“: zusätzliche Klicks, neue Pflichten, komplizierte Zugriffsrechte – bei unklarem Nutzen. Gaebel vergleicht die ePA mit einem alten Handy: „Man ist stolz, dass es das gibt, aber es ist nicht das, was man sich eigentlich wünscht.“ Noch fehle es an Durchgängigkeit, Bedienbarkeit und ausgereifter technischer Umsetzung.
Kritisch sehen beide den ab 2025 geltenden Wechsel zum Opt-out-Verfahren: Alle gesetzlich Versicherten erhalten automatisch eine ePA, wenn sie nicht widersprechen. Meißner spricht von „fragwürdiger Freiwilligkeit“, die vulnerable Gruppen überfordere. Gaebel ergänzt: „Die geringe Zahl der Widersprüche zeigt eher Unwissen oder Gleichgültigkeit als Zustimmung.“ Beide sehen ein Informationsdefizit bei der Bevölkerung. Vielen sei weder bewusst, dass sie eine ePA bekommen, noch welche Daten darin enthalten sein werden oder wer darauf zugreifen kann.
Datenschutz und Kontrolle
Die wohl größte Sorge der Referenten betrifft die Datensicherheit und ärztliche Schweigepflicht. Technische Zugriffe, Drittanwendungen und Sekundärnutzung könnten diese aushöhlen, warnt Meißner. Gaebel kritisiert, dass die Datenschutzaufsicht nur „im Benehmen“ beteiligt sei und keinen echten Einfluss habe. Zudem zeigten Sicherheitsanalysen, u. a. des Chaos Computer Clubs, dass Angriffe über Leistungserbringer (z. B. Apotheken oder Praxen) möglich seien. Daraufhin wurden zwar Nachbesserungen wie zusätzliche Verschlüsselung und Monitoring eingeführt – doch Gaebel bleibt skeptisch: „Es ist so ein bisschen das Gefühl, das Ganze ist nicht richtig zu kontrollieren.“
Weiterer Kritikpunkt beider Referenten ist die fehlende „granulare“ Zugriffskontrolle: Patientinnen und Patienten können nicht selbst steuern, welche ärztliche oder nicht ärztliche Fachkraft, welche Dokumente sehen darf. Auch Mitarbeitende in Praxen und Pflegeeinrichtungen haben potenziell weitreichenden Zugriff – ein Umstand, der datenschutzrechtlich wie medizinethisch problematisch sei. Besonders kritisch wird außerdem die sogenannte Sekundärnutzung bewertet: Daten aus der ePA können – ohne erneute Zustimmung – in ein Forschungsdatenzentrum überführt und mit anderen Datenquellen verknüpft werden. Meißner sieht darin eine gefährliche Entwicklung hin zur „Datenökonomie im Gesundheitswesen“, in der medizinische Informationen zunehmend zu einer Ressource für wirtschaftliche oder politische Zwecke würden.
Echtzeitmedizin und KI
Ein Thema in Meißners Vortrag war die Vision einer digitalisierten Echtzeitmedizin. Er zitierte Prof. Dr. med. Ferdinand Gerlach, ehemaliger Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, der von einem Gesundheitswesen träume, das auf einem „digitalen Zwilling“ jedes Menschen basiere – samt E-Konsil beim KI-gestützten Avatar-Arzt. Auch der ehemalige Gesundheitsminister Prof. Dr. med. Karl Lauterbach (SPD) beschrieb 2023 entsprechende Entwicklungen: Spracherkennungssoftware, die Arztgespräche aufzeichnet, Smalltalk herausfiltert und automatisch in die ePA übertrage. Meißner dazu: „Digitale Zwillinge kennen keine Beziehung, keine Mimik, keine Biografie. Die Arzt-Patienten-Beziehung ist aber kein Datenmodell, sondern ein Vertrauensverhältnis.“
Technik darf kein Selbstzweck sein
Die ePA offenbare ein tieferliegendes Problem: den Versuch, strukturelle Mängel technisch zu lösen – ohne soziale Aspekte mitzudenken. Meißner spricht von einer Medizin, in der der Mensch zum „Lieferanten von Gesundheitsdaten“ wird. Gaebel kritisiert die fehlende Kontrollierbarkeit. Für Meißner ist die ePA derzeit „weniger ein Versorgungswerkzeug als ein Infrastrukturprojekt mit fraglichem Nutzen, hohen Kosten und weitreichenden Folgen für Datenschutz und ärztliche Autonomie.“
Maren Siepmann