In einem Artikel auf „ZEIT Online“* über Arbeitsbedingungen in Krankenhäusern werden Dinge ausgesprochen, von denen man gehofft hatte, dass sie der Vergangenheit angehören. Aussagen, die nicht nur befremden, sondern verletzen und entwürdigen, und die gleichwohl im Alltag vieler Kliniken nach wie vor vorkommen. Insbesondere Ärztinnen berichten von sexualisierter Belästigung, von abfälligen Kommentaren und von Grenzüberschreitungen während der Arbeit. Sie beschreiben Strukturen, in denen Wegsehen leichter ist als Eingreifen und in denen Macht wichtiger sein kann als Haltung. Solche Schilderungen sind erschütternd, doch sie spiegeln die Erfahrungen vieler Kolleginnen wider. Leider verdichtet sich der Eindruck, dass die Verschiebung des Sagbaren, die wir in der Gesellschaft beobachten, auch in der Medizin zu beobachten ist und nicht an den Türen der Krankenhäuser endet.
Sexismus, Abwertung und strukturelle Diskriminierung widersprechen den Grundprinzipien ärztlichen Handelns. Wer Verantwortung für die Gesundheit anderer trägt, muss auch Verantwortung für ein respektvolles und faires Arbeitsumfeld übernehmen. Es ist eine Illusion zu glauben, dass sich Diskriminierung von selbst erledigt. Sie ist kein Randphänomen, sondern ein Bestandteil von Strukturen, die Menschen in ihrer Entwicklung behindern. Vor allem Ärztinnen erleben dies in vielen Phasen ihrer Laufbahn: beim Berufseinstieg, in der Weiterbildung, beim Wiedereinstieg nach der Elternzeit und insbesondere dann, wenn es um die Übernahme leitender Aufgaben geht.
Die Folgen sind gravierend. Qualifizierte Ärztinnen verlassen die Kliniken nicht wegen mangelnder Fähigkeiten, sondern weil sie sich nicht ernst genommen, nicht unterstützt und nicht geschützt fühlen. Sie erleben, dass strukturelle Ungleichheit nicht nur geduldet, sondern teilweise sogar verteidigt wird. Dadurch gehen Motivation, Kompetenz und Engagement verloren. In einer ohnehin angespannten Versorgungssituation verschärft dies die Probleme. Ein Arbeitsumfeld, das Respekt, Förderung und Verbindlichkeit vermissen lässt, schwächt nicht nur die Attraktivität des Arztberufs, sondern gefährdet letztlich auch die Qualität der Patientenversorgung. Denn eine Kultur des Schweigens, die kritisches Nachfragen unterdrückt, ist das Gegenteil einer sicheren Arbeitsumgebung.
Es genügt nicht, auf die Zivilcourage einzelner Betroffener zu hoffen. Die Erfahrungen der vergangenen Jahre zeigen, dass verbindliche Strukturen erforderlich sind, die Prävention, Schutz und klare Zuständigkeiten miteinander verbinden. Ein Beispiel ist die Initiative der vier Universitätskliniken in Baden-Württemberg unter dem Titel „Klare Kante gegen sexualisierte Belästigung“. Sie verdeutlicht, dass Aufklärung, Ansprechbarkeit und Führungskultur gemeinsam gedacht werden müssen und dass Standards wirksam sein können, wenn sie konsequent umgesetzt werden.
Gleichzeitig stellt sich eine weitergehende Frage: Hat die Medizin ein Führungsproblem? Die Auseinandersetzung damit führt zum Kern des Themas. Denn viele der berichteten Übergriffe sind Ausdruck eines überkommenen Führungsverständnisses, das Autorität mit Unantastbarkeit verwechselt. Kliniken brauchen jedoch keine autoritären Leitbilder, sondern Strukturen, die auf Kooperation, Kollegialität und geteilte Verantwortung setzen. Wer Verantwortung teilt, schafft Vertrauen. Wer auf Austausch setzt, fördert Motivation. Wer Diskriminierung ernsthaft erkennen und verhindern will, muss den offenen Dialog zulassen.
Die ärztliche Profession lebt von einem klaren Grundsatz: Wer heilt, darf nicht verletzen. Dieser Maßstab gilt nicht nur im Verhältnis zu Patientinnen und Patienten, sondern auch im Umgang innerhalb der Teams. Ärztliche Führung muss Haltung zeigen, zuhören können und den Anspruch haben, ein Arbeitsumfeld zu gestalten, in dem Respekt selbstverständlich ist.
Es ist an der Zeit, die Strukturen zu verändern, unter denen medizinische Arbeit stattfindet. Das ist kein Nebenthema, sondern eine wesentliche Voraussetzung für die Zukunftsfähigkeit unserer Krankenhäuser. Denn medizinische Qualität beruht nicht allein auf technischer Ausstattung, wissenschaftlichem Fortschritt oder medizinischem Wissen. Sie lebt ebenso von einer Kultur, die Diskriminierung keinen Raum gibt und die den Anspruch ernst nimmt, alle Ärztinnen und Ärzte in ihrer Arbeit zu stärken. Nur so können Kompetenz, Engagement und Innovationskraft erhalten bleiben – zum Wohl derjenigen, die im Zentrum ärztlichen Handelns stehen: die Patientinnen und Patienten.
Dr. med. Susanne Johna, Präsidiumsmitglied der Landesärztekammer Hessen, 1. Vorsitzende des Marburger Bundes Bundesverband, Vizepräsidentin der Bundesärztekammer
* Der Artikel basiert auf einer Stellungnahme der Autorin auf „LinkedIn“ zu einem ZEIT-Artikel über Arbeitsbedingungen in Krankenhäusern: „Es vergeht kaum eine OP ohne affige Anspielungen auf Sex“ von Anant Agarwala, Hanna Grabbe und Hannah Scherkamp (online am 22.07.2025).