Wir alle wissen – ob als Bürgerinnen und Bürger oder als Fachleute –, dass Deutschland unter einem erheblichen Reformstau leidet. Doch bislang ist nicht erkennbar, dass die aktuelle Bundesregierung ernsthafte Reformen in Angriff nimmt. Stattdessen werden einmal mehr Kommissionen angekündigt, die sich der Themen annehmen sollen. Wer denkt da nicht an: Wenn du nicht mehr weiter weißt, bilde einen Arbeitskreis. Aber warum bleiben Reformen wider besseres Wissen aus?

Analysen benennen dafür mehrere Gründe: Reformen stoßen auf Widerstände etablierter Interessengruppen, die politischen Prozesse sind träge, und es fehlt häufig am Willen und Konsens für tiefgreifende Veränderungen. Hinzu kommen die Angst vor unvorhersehbaren Folgen und die Komplexität der Systeme.

Natürlich machen Veränderungen Angst, und die Angst vor individuellen Einbußen – seien sie finanzieller Natur oder einfach der Verlust an Bequemlichkeit – ist nur allzu verständlich. Und dennoch sind Reformen zwingend. Dazu bedarf es – siehe oben – eines ausreichenden politischen Willens, der von einem hohen Maß kommunikativer Fähigkeiten begleitet werden muss. Maßnahmen und Reformen müssen nicht nur einmal, sondern stetig erklärt werden, und zwar so, dass sie auch von Nicht-Soziologen und Nicht-Juristinnen verstanden werden. Das bedeutet natürlich längst nicht, dass die Maßnahmen dann auch verstanden werden, geschweige denn, dass ihnen zugestimmt wird. Selbst eine Zustimmung reicht nicht, müssen Worten doch in aller Regel auch Taten folgen. Falls Sie jetzt an Konrad Lorenz denken, dann haben Sie Recht. Der letzte Satz des ihm zugeschriebenen Zitats lautet: „ … angewendet ist noch lange nicht beibehalten.“ Kurz und gut, Reformen sind mühsam und häufig ernten nicht die Reformer, sondern die Nachfolger die Früchte dieser Mühen. Gerade darin liegt jedoch die eigentliche Aufgabe von Regierungen: Das Land nicht nur bis zur nächsten Wahl, sondern weit darüber hinaus zukunftsfähig zu machen.

Ich will hier gar nicht von den immensen Problemen bei der Krankenhausreform – aktuell haben drei von vier Krankenhäusern das Geschäftsjahr 2024 mit einem bis zu dreistelligen Millionendefizit beendet – oder gar der Rentenversicherung sprechen, sondern werfe beispielhaft nur einen kleinen Blick auf das ärztlicherseits immer wieder geforderte Werbeverbot für Süßigkeiten und die Einführung einer Zuckersteuer.

Eine Modellrechnung der TU München zeigt: In den nächsten 20 Jahren könnten fast 250.000 Menschen vor einer Typ-2-Diabetes-Erkrankung bewahrt werden. Das entspräche Einsparungen von rund 16 Milliarden Euro – davon allein vier Milliarden im Gesundheitswesen – ganz zu schweigen von dem erspartem Krankheitsleid.

In einer vereinfachten Betrachtung wären dies 200.000.000 Euro pro Jahr im Gesundheitswesen. Angesichts des prognostizierten Milliardendefizits in der Gesetzlichen Krankenversicherung hört sich das eher bescheiden an, ist jedoch nur ein Beispiel von vielen. In meiner Vorstellung würde ich zum Beispiel über einen Zeitraum von drei Jahren dieses Geld zur Verfügung stellen, um endlich den immer wieder zu Recht verlangten Bürokratieabbau umzusetzen (neue prozess- und nicht verwaltungsgetriggerte Abläufe, Zusammenführen bereits vorhandener Daten zur Vermeidung unnötiger Anfragen und vieles mehr). Das würde seinerseits wieder Geld und vor allem ärztliche, aber auch pflegerische Arbeitskraft für ihren eigentlichen Zweck, nämlich die Versorgung kranker Menschen zur Verfügung stellen.

Zukunftsfähigkeit entsteht nicht durch Aufschübe oder neue Kommissionen, sondern durch den Mut, Reformen heute anzupacken – auch wenn ihre Früchte erst morgen geerntet werden. Oder frei nach Albert Einstein: „Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu lassen und trotzdem zu hoffen, dass sich etwas ändert.“

Dr. med. Edgar Pinkowski, Präsident