Es gibt keine belastbare Evidenz für eine Antibiotikaprophylaxe bei Endoprothesenträgern im Rahmen von zahnärztlichen Behandlungen. Das ist das Ergebnis einer umfassenden aktuellen Literaturrecherche der Antibiotic-Stewardship-Arbeitsgruppe (ABS-AG) des MRE-Netz Rhein-Main.
Auf dem 17. Treffen der im Jahr 2016 gegründeten AG [1] berichtete eine niedergelassenen Ärztin, dass ihren Patienten nach Endoprothesenimplantation seitens der operierenden Kliniken empfohlen werde, regelhaft bei zahnärztlichen Behandlungen eine Antibiotika(AB)-Prophylaxe (AP) mit 2 g Amoxicillin zu verschreiben. Die Kliniken verweisen dabei auf eine Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Endoprothetik (AE), die konkret empfiehlt, dass Patienten 2 g Amoxicillin eine Stunde vor einem invasiven („blutigen“) zahnmedizinischen Eingriff einnehmen. In diesem Zusammenhang verweist die AE auch auf die niedrigen Kosten von 1,30 Euro pro 1.000 mg (entspricht dann ca. 2,60 Euro für die einmalige Dosis von 2 g) für diese Prophylaxe [2].
Gleichzeitig referiert die AE eine unmittelbar zuvor erschienene große britische Studie, die bei knapp 9.500 Patienten mit Spätinfekten ihrer Gelenkprothesen keinen statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen einem vorausgegangenen Zahneingriff (alle ohne Antibiotikaprophylaxe) und dem Protheseninfekt finden konnte, und die deshalb die vorsorgliche Verabreichung eines Antibiotikums als nicht notwendig einstufte [3]. Die AE kündigte daraufhin im Januar 2022 an, ihre Empfehlung zu überprüfen [2]. Diese angekündigte Überarbeitung liegt bis heute nicht vor und die operierenden Kliniken empfehlen offenbar weiterhin die AP vor invasiven („blutigen“) zahnmedizinischen Eingriffen.
Vor diesem Hintergrund führte die ABS-AG eine Literaturrecherche durch [4]. Dabei zeigte sich, dass sich die o. g. Empfehlung der AE auf eine Empfehlung der American Academy of Orthopaedic Surgeons (AAOS) aus dem Jahr 2009 [5] bezieht, die bereits im Jahr 2012 durch eine gemeinsame Empfehlung der AAOS mit der ADA (American Dental Association) [6] ersetzt worden war, in welcher keine Empfehlung für oder gegen eine routinemäßig Antibiotikaprophylaxe bei diesen Patienten gegeben wurde. Auch die neueste Empfehlung der AAOS aus dem Jahr 2024 [7] sieht keine Hinweise für eine Assoziation zahnärztlicher Behandlungen mit späten Endoprotheseninfektionen. Sie schätzt die jährlichen Kosten für diese AP bei zahnärztlichen Prozeduren von Implantatträgern auf 59 Millionen US-Dollar, die durch Verzicht auf eine nicht evidenz-basierte Antibiotikaprophylaxe gespart werden könnten [7]. Alle weiteren recherchierten Empfehlungen aus 11 Ländern sehen ebenfalls keine Evidenz für eine routinemäßige AP; einige sehen eine Indikation für eine AP für bestimmte Patienten mit Risikofaktoren oder für bestimmte zahnärztliche Behandlungen [8].
In Übersichtsartikeln wurde darauf hingewiesen, dass das Risiko von Bakteriämien (= zeitweiliges Vorhandensein von Bakterien im Blut, wobei es definitionsgemäß weder zur Vermehrung der Bakterien im Blut noch zur Absiedelung der Infektion in andere Organe kommt) und damit prinzipiell auch für hämatogene Protheseninfektionen bei zahnärztlichen Behandlungen zwar grundsätzlich gegeben ist, aber Häufigkeit und Dauer von Bakteriämien bei den alltäglichen Zahnhygienemaßnahmen oder auch bei Hautverletzungen sehr viel größer sind.
Die vorliegenden Übersichtsartikel und auch alle in jüngerer Zeit publizierten großen – wenn auch meist retrospektiven – Studien mit vielen tausenden Patienten (Literatur in [4]) erbrachten weiter keine Evidenz für eine generelle Antibiotikaprophylaxe bei Zahnbehandlungen von Prothesenträgern. Im Gegenteil: Da es keinen Nutzen gebe, sei der weitere Einsatz von Antibiotikaprophylaxen ein unnötiges Risiko
- für die Gesellschaft allgemein, da durch den nicht indizierten Einsatz von Antibiotika (Prophylaxe) die Entwicklung von Antibiotikaresistenzen gefördert wird,
und
- für die Patienten durch unerwünschte Arzneimittelwirkungen [9].
Dieses Risiko durch unerwünschte Arzneimittelwirkungen wurde in einer kürzlich publizierten Studie aus den USA untersucht: Von 61.124 Patienten, die zwischen 2015 und 2017 eine Antibiotikaprophylaxe bei zahnärztlichen Interventionen erhalten hatten, erlitten 62 schwerwiegende unerwünschte Arzneimittelereignisse, darunter 42 allergische Reaktionen, 1 anaphylaktischer Schock und 19 Clostridioides difficile (C.difficile)-Infektionen (CDI) [10]. CDI sind durch C. difficile hervorgerufene, schwere Durchfallerkrankungen mit einer Letalität von 1–2 %, die aber bei älteren Patienten mit Komorbiditäten deutlich höher sein kann. Der Einsatz von Antibiotika ist ein wichtiger Risikofaktor für die Entwicklung einer CDI [11].
Darüber hinaus ist festzustellen, dass in Deutschland kein Antibiotikum die Zulassung für die prophylaktische Anwendung in der Zahnmedizin bei Patienten mit Gelenkimplantaten besitzt. Werden dennoch Antibiotika unter der Indikation, eine potenzielle Gelenkprotheseninfektion zu verhindern, eingesetzt, handelt es sich hierbei um einen aufklärungs- und einwilligungspflichtigen „Off-Label-Use“ des verordnenden Arztes. Stets, wenn ein Medikament außerhalb seiner zugelassenen Indikation eingesetzt (= „Off-Label-Use“) wird, haftet grundsätzlich der Arzt, der das Medikament verordnet und nicht mehr der Hersteller [12]. Zu unterscheiden hiervon ist die Therapie odontogener Infektionen (z. B. parodontale Abszesse), die die Verwendung einer kalkulierten Antibiotikatherapie unter Verwendung des effektivsten und am wenigsten toxischen AB vorsieht. Ist bei Gelenkprothesenträgern die Indikation zu einer oben genannten AB-Therapie gegeben, so wird zu einer antibiotischen Therapie bei/nach zahnmedizinischem/-chirurgischem Eingriff geraten [13].
Fazit
In Anbetracht der oben dargelegten fehlenden Evidenz und der damit verbundenen Risiken sollten Empfehlungen zu einer Antibiotikaprophylaxe für zahnärztliche Behandlungen bei Endoprothesenträgern zur Prävention einer Endoprotheseninfektion nicht mehr generell ausgesprochen werden. Entsprechende Empfehlungen von Fachgesellschaften sollten diesbezüglich überarbeitet werden. Die ABS-AG hat hierzu mit der AE bereits Kontakt aufgenommen.
Haben Sie Interesse an der Mitarbeit in der AG ABS des MRE-Netz Rhein-Main? Dann wenden Sie sich bitte an Dr. med. Rolf Tessmann, ABS-AG (E-Mail: abs-ag@ outlook.de) oder an das MRE-Netz Rhein-Main (E-Mail: mre-rhein-main@kreis- offenbach.de). Wir freuen uns auf Ihre Mitarbeit!
Dr. med. Rolf Teßmann, Dr. med. Christine Piper, Prof. Dr. med. Ursel Heudorf, ABS-AG im MRE-Netz Rhein-Main
Die Literaturhinweise finden Sie hier.