Wir haben in den vergangenen Jahren einen bis in die Haarspitzen motivierten Bundesgesundheitsminister erlebt, der die von allen Teilnehmern im Gesundheitswesen geforderten Reformen endlich strukturell angehen wollte. Dazu gab es eine prominent besetzte Regierungskommission, die in insgesamt zwölf Stellungnahmen den Ist-Zustand analysiert und Reformvorschläge gemacht hat, unter anderem mit dem Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz. Aber auch mit einem bunten Strauß weiterer Gesetze hat sich in einem wesentlichen Punkt bislang nichts geändert: Der Patient steht nicht im Mittelpunkt des Handelns.
Debatten am Patienten vorbei
Vielmehr beschäftigen wir uns mit Sektorengrenzen, mit Fallpauschalen, den Details der Abrechnung, Feinheiten der GOÄ. Das sind alles wichtige Themen, die nicht zuletzt relevant sind für das wirtschaftliche Überleben von Praxen und Krankenhäusern. Wenn wir aber einen Schritt von den objektiven eigenen Problemen zurücktreten, dann erkennen wir, dass wir uns in unseren Debatten immer weiter vom Patienten entfernen. Nehmen wir die sogenannten Leistungsgruppen, derer es aktuell 61 geben soll. Jede Leistungsgruppe konzentriert sich auf eine dieser sogenannten Leistungen, mal weiter, mal enger gefasst. So gibt es vier Leistungsgruppen für den Ersatz von Hüft- oder Kniegelenken.
„Den Menschen in seiner Ganzheit wahrnehmen“
Parallel führen wir in die Versorgung viele weitere Mindestmengen ein. Wenn man nicht mindestens so viel von x im Zeitraum y macht, dann darf man es nach dem Zeitraum y gar nicht mehr machen, bzw. bekommt es nicht mehr bezahlt. Noch extremer ist die Planung bei bestimmten onkologischen Erkrankungen, wo dann immer die 15 % der Anbieter mit den niedrigsten Zahlen automatisch nicht mehr an den Markt dürfen. Diese Maßnahmen führen zu einer Konzentration von Angeboten, was heißt, dass eine eher kleinere Zahl von Anbietern die Leistung abrechnen darf. Diese werden dann aber auch von der Erbringung dieser Leistungen existenziell abhängig. In anderen Worten, wenn ich mindestens 50 Operationen von x machen muss, um weiter abrechnen zu dürfen, dann muss ich die eben auch machen. Das führt, ohne dabei irgendwem zu nahe treten zu wollen, regelhaft dazu, dass Indikationen entsprechend gestellt werden.
Zersplitterung der Versorgung
Wir haben zudem mit den aktuell zu erwerbenden 46 Facharztweiterbildungen, zehn Schwerpunkten und 57 Zusatzweiterbildungen eine Zersplitterung der Versorgung in immer kleinere Teile. Damit entfernen wir uns zwangsläufig immer weiter vom Patienten als Gesamtorganismus, der, wenn es auch abgegriffen klingen mag, mehr ist als ein Herz plus zwei Nieren plus eine Lunge plus etwas über 200 Knochen und so fort. Wenn ich Flankenschmerzen rechts habe, dann kann ich je nach Fachrichtung des Kollegen eine Nierenkolik, eine Gallenkolik, eine gebrochene Rippe, eine Angina pectoris oder eine Peritonitis haben. Das alles kann man in 27 Jahren Konsiltätigkeit erfahren. Und das liegt nicht daran, dass diese Kollegen grundsätzlich schlechte Ärzte wären, im Gegenteil, sie sind oft hervorragende Spezialisten auf ihrem jeweiligen Gebiet. Unsere immer kleinteiligere spezialisierte Ausbildung, das ökonomische System, in dem wir alle arbeiten, führen uns aber immer weiter davon weg, den Menschen in seiner Ganzheit wahrzunehmen.
Prävention als höchste Priorität
Wenn man die Medizin als buisiness case neu erfinden wollte und die customer experience in den Mittelpunkt stellen würde, dann würden wir den Patienten ins Zentrum unserer Überlegungen stellen. Wie kommt dieser Mensch schnell an eine Untersuchung? Welche Untersuchungen sind wirklich erforderlich und wie erhält er diese in kürzest möglicher Zeit? Wie führen wir die Ergebnisse der Untersuchungen so zusammen, dass sie für den Patienten und jeden Behandler jederzeit zur Verfügung stehen? Wie vermeiden wir lange Wege und lange Wartezeiten? Wie vermeiden wir, dass aus den Menschen überhaupt Patienten werden? Die Prävention hätte in einem wirklich patientenorientierten System die höchste Priorität aller Maßnahmen.
Dr. med. Christian Schwark, Vizepräsident der Landesärztekammer Hessen