Hintergrund und Zielsetzung
Der akute Schlaganfall ist ein medizinischer Notfall, bei dem jede Minute zählt („Time is Brain“) [1]. Eine schnelle präklinische Einordnung der Symptome und eine gezielte Einweisung in die Klinik sind entscheidend, um das funktionelle Outcome der Patienten durch systemische Thrombolyse und/oder mechanische Thrombektomie zu verbessern.
Das vorliegende Konzept wurde entwickelt, um die präklinische Schlaganfallversorgung in Hessen gezielt zu optimieren und bestehende Strukturen zu unterstützen. Es basiert auf den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und wurde in enger Abstimmung mit den Ärztlichen Leitern Rettungsdienst (ÄLRD), Vertretern der Thrombektomiezentren und Stroke Units erarbeitet. Ziel ist es, eine möglichst einheitliche Zuweisungsstrategie zu etablieren, um eine flächendeckende standardisierte Versorgung zu gewährleisten und regionale Unterschiede zu reduzieren.
Das Konzept richtet sich an alle, die in der präklinischen und akut-klinischen Versorgung von Patienten mit Verdacht auf einen Schlaganfall beteiligt sind.
Die konzeptionelle Entwicklung sowie die Koordination der Abstimmungsprozesse erfolgten über die Klinik für Neurologie des Universitätsklinikums Gießen und Marburg, Standort Gießen, die als koordinierendes Zentrum fungierte.
Herausforderungen und bisherige Unterschiede
Bislang bestanden in Hessen Unterschiede in der Schlaganfallerkennung durch die Verwendung unterschiedlicher prähospitaler Scores sowie ein sehr heterogenes Vorgehen hinsichtlich der Patienten, die möglicherweise von einer mechanischen Thrombektomie profitieren könnten und somit direkt einem Zentrum zugewiesen werden sollten. Es gab nicht nur Unterschiede in der prähospitalen Zuweisung von Patienten mit Verdacht auf einen Verschluss eines großen hirnversorgenden Gefäßes (Large Vessel Occlusion [LVO]), sondern auch in der generellen Schlaganfallerkennung. Die Zuweisungskriterien in Bezug auf Behandlungsfenster, Dringlichkeit und Zielklinik waren regional unterschiedlich.
Die neuen konsentierten Empfehlungen schaffen eine einheitliche Vorgehensweise, um die Versorgung aller Schlaganfallpatienten zu verbessern. Durch die enge Zusammenarbeit von Rettungsdiensten, Stroke Units und Thrombektomiezentren wird sichergestellt, dass die Versorgung künftig unabhängig von Landkreisgrenzen nach klar definierten Kriterien erfolgt. Kernpunkte sind die Anwendung eines einheitlichen Schlaganfallscores, klare Zuweisungsstrategien und Regelungen zur Verlegung in ein Zentrum.
FAST4D – einheitlicher Standard für die Schlaganfallerkennung
Zur verbesserten prähospitalen Diagnostik wird hessenweit der FAST4D-Score eingeführt. Dieser erweitert den etablierten FAST-Score (siehe Abb. 1) um vier zusätzliche neurologische Zeichen, die insbesondere zur Identifikation vertebrobasilärer Schlaganfälle beitragen [2]:
- Diplopic images (Doppelbilder)
- Deficit in the field of view (Gesichtsfelddefekt)
- Dizziness/Vertigo (Schwindel/Vertigo)
- Dysmetria/Ataxia (Dysmetrie/Ataxie)
Jedes klinische Zeichen im FAST4D-Score wird mit einem Punkt bewertet. Das „T“ für Time wird nicht gezählt, sodass der maximale Score sieben Punkte beträgt.

Der FAST4D-Score wurde primär für die allgemeine Schlaganfallerkennung entwickelt. Erste Analysen zeigen, dass eine höhere Punktzahl mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer Large Vessel Occlusion (LVO) assoziiert sein kann, vgl. [3]. Die Nutzung von FAST4D in der prähospitalen Entscheidungsfindung basiert auf diesem Zusammenhang und soll als Orientierungshilfe für die Zuweisung dienen.
Strukturierte Zuweisung
Die neuen Zuweisungskriterien ermöglichen eine standardisierte Patientensteuerung auf Basis klinischer Parameter wie FAST4D-Score und Symptombeginn. Der gestufte Algorithmus soll dazu beitragen, dass Patienten zielgerichtet der optimalen Klinik zugewiesen werden können und die Entscheidung zur Zuweisung erleichtert wird:
- FAST4D < 4 Punkte und Symptombeginn ≤ 24 Stunden: Transport zur nächstgelegenen Stroke Unit zur primären bildgebenden Diagnostik und möglichen systemischen Thrombolyse.
- FAST4D ≥ 4 Punkte und Symptombeginn ≤ 24 Stunden: Direkte Zuweisung in ein Thrombektomiezentrum, sofern die zusätzliche Transportzeit im Vergleich zur nächstgelegenen Stroke Unit ohne Thrombektomiemöglichkeit nicht mehr als 10 Minuten beträgt. Diese Vorgabe kann regional angepasst werden. Ziel ist es, die Direktzuweisung gezielt bei schwer betroffenen Patienten einzusetzen, da eine längere Anfahrt den frühzeitigen Beginn einer potenziell wirksamen systemischen Thrombolyse verzögern könnte.
- Symptombeginn > 24 Stunden: Transport zur nächstgelegenen Stroke Unit mit verfügbarer Versorgungskapazität.
- Intensivpflichtige Patienten (A-, B- oder C-Problem): Transport in ein Zentrum mit umfassender neurologischer und intensivmedizinischer Versorgung.
Die beschriebenen Zuweisungskriterien sind in den neuen Hessenalgorithmen als einheitliche Lehrmeinung für die Ausbildung von Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitätern in Hessen aufgenommen worden.
Der daraus folgende Algorithmus (Abb. 2, nur online) ist Bestandteil des Algorithmus K11 (Schlaganfall) der Version 4.1 der Hessenalgorithmen und zeigt die Entscheidungswege der prähospitalen Zuweisung grafisch zusammengefasst.
Warum werden Patienten bis zu 24 Stunden nach Symptombeginn noch als zeitkritisch eingestuft?
Moderne Bildgebungsverfahren ermöglichen eine individuelle Therapieentscheidung, indem sie die Infarktkerngröße und das noch rettbare Hirngewebe („Penumbra“) sichtbar machen. Die Studien DAWN, DEFUSE-3, WAKE-UP und EXTEND belegen, dass Patienten auch außerhalb der klassischen Zeitfenster von Thrombolyse und Thrombektomie profitieren können, wenn noch funktionsfähiges, aber gefährdetes Hirngewebe nachweisbar ist [4–7].
Auf Basis dieser Erkenntnisse wurde das Zeitfenster für die Akutversorgung auf bis zu 24 Stunden nach Symptombeginn erweitert. Dadurch gelten auch Patienten mit späterem Behandlungsbeginn weiterhin als zeitkritisch und werden einer spezialisierten Stroke Unit zugewiesen.
Trotz der Möglichkeit, auch Patienten im erweiterten Zeitfenster noch wirksam zu behandeln, bleibt die Zeit bis zur Versorgung ein entscheidender Faktor für das funktionelle Outcome. Daher sollte auch weiterhin eine möglichst rasche Versorgung sichergestellt werden.
Warum eine Direktzuweisung in ein Thrombektomiezentrum?
Für Patienten mit hoher Wahrscheinlichkeit einer LVO ermöglicht eine Direktzuweisung in ein Thrombektomiezentrum eine schnellere endovaskuläre Therapie, wenn dies ohne erhebliche Transportverzögerung möglich ist.
Ameen et al. (2024) weisen darauf hin, dass eine schnelle endovaskuläre Therapie mit einem besseren funktionellen Outcome assoziiert sein kann, insbesondere wenn eine frühzeitige Patientensteuerung erfolgt [8]. Milne et al. (2017) und Romoli et al. (2020) konnten zeigen, dass eine frühzeitige Behandlung bei Patienten mit hoher LVO-Wahrscheinlichkeit die Chance auf funktionelle Unabhängigkeit nach 90 Tagen signifikant erhöht [9, 10]. Daher kann eine Direktzuweisung für Patienten mit schwerem neurologischem Defizit vorteilhaft sein.
Die konsentierten Empfehlungen sehen eine Direktzuweisung in ein Thrombektomiezentrum für Patienten mit FAST4D ≥ 4 Punkten vor – sofern dies unter den gegebenen regionalen Bedingungen umsetzbar ist und die zusätzliche Transportzeit im Vergleich zur nächstgelegenen Stroke Unit ohne Thrombektomiemöglichkeit in der Regel nicht mehr als 10 Minuten beträgt.
Diese Zeitvorgabe kann an die regionalen Gegebenheiten angepasst werden, um eine bestmögliche Balance zwischen schneller Thrombektomie und der Verfügbarkeit der regionalen Versorgung zu gewährleisten. Dabei wird berücksichtigt, dass die systemische Thrombolyse in vielen Fällen eine entscheidende Therapieoption bleibt. Die Anpassung der Transportzeiten erfolgt daher unter Berücksichtigung der Sicherstellung dieser Behandlungsoption.
Die Rolle der Stroke Units
Die Stroke Units bleiben die zentrale Versorgungsstruktur für Schlaganfallpatienten. Sie gewährleisten eine schnelle Diagnostik, frühzeitige systemische Thrombolyse und eine umfassende Akutbehandlung. Die neuen Zuweisungskriterien sollen die bestehende Versorgungsstruktur gezielt ergänzen und die bereits etablierte Schlaganfallversorgung weiter optimieren. Die Stroke Units bleiben für die Mehrheit der Schlaganfallpatienten die primären Anlaufstellen.
Die Direktzuweisung in ein Thrombektomiezentrum betrifft eine klar definierte Patientengruppe und soll sicherstellen, dass schwere Fälle frühzeitig einer interventionellen Therapie zugeführt werden können. Dieses abgestufte System gewährleistet eine patientenzentrierte Steuerung, die sowohl eine rasche Thrombolyse in den regionalen Stroke Units als auch eine frühzeitige Thrombektomie für geeignete Patienten ermöglicht.
Fazit
Die neuen konsentierten Empfehlungen zur prähospitalen Schlaganfallversorgung in Hessen stellen eine strukturierte Grundlage dar, um die präklinische Patientensteuerung zu optimieren und an die bestehenden Versorgungsstrukturen anzupassen. Durch eine standardisierte präklinische Diagnostik und Patientensteuerung wird sichergestellt, dass alle Schlaganfallpatienten schnellstmöglich einer Stroke Unit zugeführt werden, um eine frühzeitige Diagnostik und Therapie zu ermöglichen.
Dr. med. Christian Claudi, Dr. med. Christian Schwark, Jörg Blau, Prof. Dr. med. Heidrun Krämer-Best, Prof. Dr. med. Lars Timmermann, Prof. Dr. med. Hagen B. Huttner, PD Dr. med. habil. Martin Jünemann, Prof. Dr. med. Patrick Schramm
E-Mail via:haebl@laekh.de
Im Literaturverzeichnis finden sich die Abb. 2 (Algorithmus K11 zur prähospitalen Zuweisung bei Verdacht auf Schlaganfall) sowie das Konsensuspapier „Präklinisches Management akuter Schlaganfallpatienten in Hessen“.