Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Ernst Hanisch, Prof. Dr. med. Hans-Bernd Hopf
Eine Analyse bundesweiter Krankenhausabrechnungsdaten aus dem Jahr 2022 zeigt, dass von insgesamt 14,8 Millionen vollstationären Behandlungsfällen (ohne Entbindungen und Neugeborene) rund 2,6 Millionen Fälle (17,3 %) laut IGES-Modell und 3,2 Millionen Fälle (21,8 %) laut AOP-Katalog potenziell ambulant erbracht werden könnten. Beide Modelle identifizierten übereinstimmend 1,1 Millionen Fälle als ambulantisierbar. Dies entspricht einem rechnerischen Ambulantisierungspotenzial von ca. 7 % der stationären Fälle [1].
Die politisch gewollte Ambulantisierung stationärer Leistungen ist ein zentrales Element der Krankenhausreform in Deutschland. Ziel ist es, die stationäre Versorgung zu entlasten, Kosten zu senken und medizinisch nicht zwingend stationär durchzuführende Leistungen ambulant zu erbringen. Diese Logik basiert auf überwiegend retrospektiven Studien zum Ambulantisierungspotenzial sowie auf internationalen Vergleichen, insbesondere innerhalb der OECD. Bei genauerer Betrachtung zeigen sich jedoch erhebliche methodische, strukturelle und ethische Probleme.
Zur Begründung einer vermeintlichen Überversorgung wird regelmäßig angeführt, dass Deutschland mit rund sechs Krankenhausbetten pro 1.000 Einwohner deutlich über dem OECD-Durchschnitt von vier liege. Dieser Wert wird häufig als Benchmark genutzt, ohne weitere statistische Kontextualisierung (z. B. Streuung, Median, Quartilsabstand). Dies ist methodisch problematisch, da die OECD-Länder äußerst heterogene Gesundheitssysteme umfassen.
So liegt die Bettenzahl in Japan und Südkorea bei über zwölf, in Großbritannien hingegen unter drei Betten pro 1.000 Einwohner. Die alleinige Nennung des Mittelwerts ohne Konfidenzintervall oder Angaben zur Verteilung stellt eine statistische Verkürzung dar, die das Risiko politischer Fehlinterpretation in sich trägt.
Die offiziell ausgewiesene Bettenkapazität vieler Krankenhäuser spiegelt zunehmend nicht mehr die real verfügbare Versorgungsleistung wider. Aufgrund des anhaltenden Pflegekräftemangels kann ein erheblicher Teil dieser Betten nicht betrieben werden. Dennoch wird dieser Rückgang der tatsächlichen Versorgungskapazität bislang nicht systematisch erfasst oder transparent gemacht. De facto findet eine schleichende Bettenreduktion statt – ein struktureller Abbau von Versorgung, der sich dem öffentlichen Blick entzieht und gesundheitspolitisch bisher kaum adressiert wird. Diese Intransparenz untergräbt das Vertrauen in die Steuerungsfähigkeit des Gesundheitssystems und erschwert evidenzbasierte Entscheidungen über Ressourcenallokation und Krankenhausplanung.
Es braucht dringend eine ehrliche Bestandsaufnahme: Wie viele Betten stehen wirklich zur Verfügung – personell abgesichert und medizinisch sinnvoll betreibbar? Ein weiteres Kernargument zur Rechtfertigung der Ambulantisierung ist der Mangel an Pflege- und Fachpersonal in Kliniken. Dieses Argument greift jedoch zu kurz, da der Fachkräftemangel gleichermaßen den ambulanten Sektor betrifft. Eine bloße Verlagerung von Leistungen ohne parallelen Strukturaufbau im niedergelassenen Bereich führt weder zu einer Entlastung noch zu einer Qualitätssteigerung – im Gegenteil: Es drohen neue Versorgungslücken, insbesondere im ländlichen Raum.
Die Ambulantisierungsstrategie wird rhetorisch als „individualisierte Entscheidung“ dargestellt. In der Praxis wird jedoch ein komplexes Kontrollregime (Controlling, Medizinischer Dienst der Krankenkassen) mit starken normativen Elementen etabliert, das auf der sogenannten Kontextfaktorenprüfung basiert. Diese sieht vor, dass jede stationäre Leistung anhand vorgegebener standardisierter Ausschlusslisten (z. B. Gebrechlichkeit, Beatmung, soziale Umstände) dokumentiert und begründet werden muss – mit dem Risiko von Fehleinschätzungen mit konsekutiven Regressen. Die Folge ist eine Abwertung des ärztlichen Urteils zu einer formalisierten Abfrage von Ausschlussfaktoren – wenn es sein muss auch ohne Patientenkontakt bei simultaner drastischer Erhöhung des bürokratischen Aufwandes. Ziel ist nicht mehr die individuelle ärztliche Einschätzung des Patienten, sondern die Abfrage eines beliebigen Fragekataloges.
Dies steht diametral zum Grundelement jedweden ärztlichen Handels: die Entscheidung, ob ein Patient stationär oder ambulant operiert werden sollte, lässt sich nicht allein durch metrische Kennzahlen oder standardisierte Kontextfaktoren treffen, sie berührt den Kern ärztlicher Kompetenz- die Fähigkeit, auf Basis klinischer Erfahrung, Intuition und eines ganzheitlichen Blicks auf den individuellen Patienten zu entscheiden . Diese ist nicht algorithmisierbar!
Die Rechnungsstellung von Krankenhausleistungen in Deutschland erfolgt innerhalb des DRG-Systems (Diagnosis Related Groups) über Kodierungen von Diagnosen und therapeutischen Maßnahmen. Diese Abrechnungsdaten (sog. Routinedaten) werden dann dazu benutzt, um Sekundäranalysen durchzuführen, wie sie zum Beispiel zum Ambulantisierungspotential von Pioch et al. [1] vorgenommen wurden.
Dabei verweisen die Autoren auf die methodischen Leitlinien der „Guten Praxis Sekundärdatenanalyse (GPS)“ [2]. Diese stellt sicher, dass die Auswertung retrospektiver Abrechnungsdaten transparent, reproduzierbar und methodisch nachvollziehbar erfolgt. Dennoch bleibt ein strukturelles Problem bestehen: Sekundärdaten wie die DRG-Statistik sind in ihrer Tiefe begrenzt. Sie bilden z. B. keine sozialen Begleitumstände, häuslichen Versorgungsbedingungen oder die tatsächliche klinische Komplexität (wie Gebrechlichkeit, Pflegebedarf, Compliance, Nachsorge) vollständig ab.
Wie valide eine Sekundäranalyse von Routinedaten sein kann, hat das Bundesverfassungsgericht 2019 festgestellt [3]: Da es auf Grund der Komplexität des DRG-Systems zu erheblichen Fehlkodierungen kommen kann, sind die auf der retrospektiven Auswertung dieser Daten gezogenen Schlussfolgerung in der Regel mit einer erheblichen Unschärfe behaftet.
Passend hierzu stellte der Bundesrechnungshof ebenfalls 2019 fest [4], dass jede zweite Krankenhausabrechnung im geprüften Zeitraum fehlerhaft war. Diese strukturellen Mängel betreffen unmittelbar die Validität von Studien, die auf Routinedaten basieren – also auch das hier kritisierte Ambulantisierungsgutachten. Die Anwendung von Kontextfaktorenprüfungen (wie im IGES-Modell vorgeschlagen) kann methodisch helfen, die Datenlage zu verbessern, ersetzt aber nicht die klinische Realität oder das individuelle ärztliche Urteil. Eine automatisierte Ableitung von Versorgungsentscheidungen auf Basis unvollständiger Daten birgt das Risiko einer algorithmischen Verzerrung patientenzentrierter Versorgung.
Zentrales Problem der aktuellen Argumentationslinie ist das Menschenbild, das ihr zugrunde liegt: Der Patient erscheint als Fallpauschale mit OPS-Kodes, nicht als individuelles Subjekt mit sozialen, psychischen und körperlichen Kontextbedingungen. Eine derart technokratische Perspektive läuft der Idee einer patientenzentrierten Medizin zuwider und wird insbesondere der älteren, multimorbiden oder sozial prekären Bevölkerung nicht gerecht. Nicht zuletzt wird dadurch die Autonomie des erkrankten Menschen eingeschränkt und eine neue Form des Paternalismus („Ich weiß was für dich gut ist“) auf diese Weise etabliert.
In einem zunehmend polarisierten politischen Klima wirkt die wahrgenommene Aushöhlung wohnortnaher Versorgung nicht neutral. Klinikschließungen, weite Wege, überlastete Praxen, überlastete zentrale Notfallaufnahmen von Kliniken und überbordende Bürokratie vermitteln vielen Menschen den Eindruck „der Staat spart auf unsere Kosten“. Diese Erfahrung verstärkt das Misstrauen gegenüber Institutionen, Parteien und Experten. Genau in diese Lücke stoßen populistische Narrative: „Früher gab es ein Krankenhaus im Ort – heute nur noch Abrechnungslogik.“ Insofern ist die aktuelle Ambulantisierungsstrategie nicht nur eine medizinische, sondern auch eine demokratiepolitische Herausforderung.
Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Ernst Hanisch, E-Mail: e.hanisch@em.uni-frankfurt.de
Prof. Dr. med. Hans-Bernd Hopf