Trotz Versicherungspflicht leben in Deutschland hunderttausende Menschen ohne Absicherung im Krankheitsfall. Auch in Hessen wird die Zahl auf mehrere Zehntausend geschätzt. Die Folgen sind gravierend: Erkrankungen werden zu spät behandelt – mit vermeidbaren Komplikationen bis hin zu Todesfällen. Auf der ersten hessischen Fachtagung zu diesem Thema am 23. Oktober im Gesundheitsamt Frankfurt am Main diskutierten Expert:innen aus Versorgungspraxis, Kommunen, Zivilgesellschaft und Wissenschaft über Versorgungslücken und Lösungsansätze.

Viele Ärzt:innen kennen das Dilemma, Patient:innen ohne Krankenversicherungsschutz (KV-Schutz) behandeln zu wollen, dies aber nicht abrechnen zu können. Die Fachtagung behandelte auch für die ärztliche Tätigkeit relevante Aspekte.

Systemische Ursachen statt individuellem Versagen

Die Gründe für fehlenden KV-Schutz liegen überwiegend in strukturellen Ausschlüssen wie: Beitragsschulden führen zu Leistungsruhen (GKV) oder Notlagentarif (PKV). Das Asylbewerberleistungsgesetz beschränkt Leistungsanspruch im Wesentlichen auf Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände. Durch prekäre Beschäftigung/Scheinselbstständigkeit fallen Menschen aus dem System heraus. Fehlender/ungeklärter Aufenthaltsstatus: Übermittlungspflicht erzeugt Angst vor Abschiebung und Gesundheitsversorgung wird gemieden. Ausschlüsse nach SGB II/XII – besonders EU-Bürger:innen ohne verfestigtes Aufenthaltsrecht haben oft keinen Sozialleistungsanspruch. Teufelskreis aus Wohnungslosigkeit und unbehandelten (psychischen) Erkrankungen. Fehlende Sprachmittlung, bürokratische Hürden und Vorurteile wirken diskriminierend, verstärken Ungleichheiten.

Auftrag versus Realität

Gemäß § 1 Abs. 2 MBO-Ä ist es ärztliche Pflicht, Gesundheit zu schützen und Leiden zu lindern – unabhängig vom sozialen Status. In der Praxis bleibt meist nur Notfallbehandlung nach dem „Nothelferparagraphen“ erstattungsfähig, verbunden mit hohen bürokratischen Hürden und rechtlichen Unsicherheiten. Planbare, aber medizinisch dringend notwendige Eingriffe scheitern oft an der Finanzierung. Das führt zu ethischen Dilemmata und vermeidbaren Komplikationen. Neben ambulantem und stationärem Sektor hat der Öffentliche Gesundheitsdienst – und damit kommunale Gesundheitsämter – den gesetzlichen Auftrag, gesundheitliche Chancengleichheit zu fördern und den Zugang zu Gesundheitsversorgung für alle zu unterstützen. Dies wird in der Praxis noch nicht durchgängig eingelöst .

Situation in Hessen

Niedrigschwellige Strukturen, z. B. Humanitäre Sprechstunden am Gesundheitsamt Frankfurt am Main, Elisabeth-Straßenambulanz des Caritasverbandes Frankfurt e. V. und die Malteser Medizin, leisten unverzichtbare Basisversorgung, können aber Versorgungslücken nicht schließen. Die größte Lücke besteht bei Facharzt-, Klinik-, Rehabilitations-, Palliativ- und Pflegebehandlungen. Clearingstellen für Krankenversicherung zielen darauf ab, für Betroffene Wege ins Regelsystem zu bahnen. In Hessen gibt es sie in Frankfurt am Main, Wiesbaden, Bad Schwalbach und Kassel – in verschiedener Trägerschaft und mit unterschiedlichen Ressourcen. Als ergänzende Lösung hat vielerorts bundesweit der Anonyme Behandlungsschein (ABS) bewährt, der über staatlich finanzierte Fonds abgerechnet wird. In Hessen fehlt ein Behandlungsfonds, er ist aber im aktuellen Koalitionsvertrag vorgesehen.

Was braucht Hessen?

Folgende Maßnahmen sind erforderlich:

  • Behandlungsfonds: Rechtssicherheit bei medizinisch indizierten Behandlungen
  • Flächendeckende Clearingstellen – bahnen Wege ins Regelsystem
  • Schnittstellen zwischen niederschwelligen Ambulanzen , Kommunen und Kliniken: Anbindung an stationäre Versorgung
  • Finanzierung von Sprachmittlung: unterstützt Patientensicherheit und Therapietreue

Fazit

Fehlende Versorgung von Menschen ohne KV-Schutz ist kein Randthema. Damit ärztlicher Auftrag und Versorgungsrealität übereinstimmen, braucht es staatliche Strukturen, die Versorgung unabhängig vom Versicherungsstatus ermöglichen. Ergebnis der Fachtagung war: Ein gutes Gesundheitssystem erkennt man daran, dass es niemanden zurücklässt und Ärzt:innen ihrem Versorgungsauftrag gerecht werden können.
 

Sarah Alexandra Lang, Stefanie Minkley, Humanitäre Sprechstunden und Zugang zur Gesundheitsversorgung, Gesundheitsamt Stadt Frankfurt am Main