Im November wird zum 30. Mal das Curriculum Psychosomatische Grundversorgung an der Akademie für Ärztliche Fort- und Weiterbildung der Landesärztekammer Hessen in Bad Nauheim angeboten. Das Jubiläum ist Anlass für einen Blick zurück und auch nach vorne.
Fächerübergreifend: Psychosomatische Grundversorgung
Bei der Psychosomatischen Grundversorgung liegt der Fokus auf der patientenzentrierten Kommunikation und Gestaltung einer als positiv empfundenen Patient-Arzt-Beziehung. Die Fähigkeit hierzu erwerben Ärzte in der patientenzentrierten Selbsterfahrung in Balintgruppen, der differenzialdiagnostischen Klärung psychosomatischer Krankheitszustände in Theorie und Fallbeispielen und dazu nötigen Gesprächstechniken.
„Die psychosomatische Grundversorgung war meine wichtigste Fortbildung für die Schmerztherapie. Ich habe auf vermeintlich rein somatische Erkrankungen eine neue Sicht bekommen und konnte mir so neue Optionen in der Therapie erarbeiten. Denn die immer wiederkehrende Frage ist ja, warum jemand krank geworden ist und warum bei eben diesem Menschen die Erkrankung nicht ausheilt. Die psychosomatische Grundversorgung gibt wichtige Impulse für jeden Fachbereich.“
Dr. med. Sabine Borck, Fachärztin für Anästhesie und Neurologie, Spezielle Schmerztherapie
In den 1980er-Jahren setzte sich in der Medizin immer mehr die Erkenntnis durch, dass psychische Faktoren bei vielen Erkrankungen für die Patientenbehandlung eine Rolle spielen. Die Einführung der Psychosomatischen Grundversorgung (PsyGV) stellte 1987 eine Verbesserung der ärztlichen Versorgung von psychosomatisch erkrankten Patientinnen und Patienten dar. Obwohl der 95. Deutsche Ärztetag 1992 die PsyGV in die Musterweiterbildungsordnung aller (!) klinischen Gebiete aufgenommen hatte, haben nur wenige medizinische Fächer diese in ihren Weiterbildungen verbindlich vorgeschrieben. Die Psychosomatische Grundversorgung deckt den Behandlungsbedarf der psycho-somatisch Kranken ab, die keiner Fachpsychotherapie bedürfen – immerhin 35 % der Patienten* einer durchschnittlichen Praxis [3].
Aufbau des Curriculums
Das aktuelle (Muster-)Kursbuch Psychosomatische Grundversorgung von 2024 beruht auf der Grundlage der (Muster-)Weiterbildungsordnung von 2018 und beinhaltet eine Gesamtstundenzahl von 80 Stunden, bestehend aus zwei Blöcken: Patientenzentrierte Kommunikation 50 Stunden (Modul I mit 20 Stunden theoretischen Grundlagen und Modul II mit 30 Stunden Handlungskompetenz, also Beziehungsgestaltung und Gesprächsführung). Hinzu kommen noch 30 Stunden Balintgruppenarbeit. Die Kurs-Weiterbildung „Psychosomatische Grundversorgung“ ist Bestandteil der Facharzt-Weiterbildungen Allgemeinmedizin, Frauenheilkunde und Geburtshilfe, Kinder- und Jugendmedizin, Urologie sowie der Zusatz-Weiterbildung Sexualmedizin [1, 2]. Zudem dürfen Leistungen der speziellen Schmerztherapie nur nach Absolvieren der Kursweiterbildung PsyGV abrechnet werden. Somit ist die Psychosomatische Grundversorgung sowohl Teil von Weiterbildungen als auch eine Fortbildung zur Abrechnung der Ziffern 35100/35110.
Zur Geschichte des Curriculums
1988, ein Jahr nach der Einführung der Psychosomatischen Grundversorgung in die Psychotherapierichtlinien, wurde das Curriculum Psychosomatische Grundversorgung an der Akademie für Ärztliche Fort- und Weiterbildung in Bad Nauheim etabliert. Gründungsväter waren Prof. Dr. med. Wolfram Schüffel, bis 2005 Inhaber des Lehrstuhls für Psychosomatik an der Philipps-Universität Marburg, und Dr. med. Günter Maaß, Chefarzt der Abteilung für Psychosomatische Medizin der Deutschen Klinik für Diagnostik in Wiesbaden [4]. An der Konzeptualisierung und späteren Durchführung des Curriculums waren neben Schüffel und Maas auch Prof. Dr. med. Hans Wedler, Dipl.-Psych. Heinz Dieter Faßbender, Dr. med. Wolfgang Merkle, Lilli Rackwitz (Fachärztin) und PD Dr. phil. Ursula Brucks beteiligt [5].
„Sehr gut fand ich die Interaktion mit Kollegen und Dozenten und die Dynamik, die sich in den Balintgruppen entwickelt hat.“
Anonym aus der Evaluation
Ende 1988 war ich als Assistenzarzt am allerersten „Curriculum Psychosomatische Grundversorgung“ (PsyGV) in der Akademie Bad Nauheim dabei, das Prof. Schüffel mit Unterstützung des damaligen Hauptgeschäftsführers der Landesärztekammer Hessen, Prof. Dr. med. Horst Joachim Rheindorf, und des Gründers und langjährigen Vorsitzenden der Akademie, Dr. med. Hermann Kerger, auf den Weg gebracht hatte [6]. 2003 kam das Angebot, als inzwischen niedergelassener Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie als Dozent mitzuwirken. 2012 übernahm ich die wissenschaftliche Leitung zusammen mit Dr. med. Wolfgang Merkle als Stellvertreter.
Seit Anfang der 2000er-Jahre wächst und verjüngt sich das Dozententeam. Ab 2010 vermittelt Thomas Wirth als Kunsttherapeut die nonverbale Kommunikation. Seit der Umstrukturierung 2018 findet das Curriculum jeweils 6-mal im Jahr an einem Freitag und Samstag statt. Während der Pandemie 2020–2022 ging der Kurs online, aktuell finden sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wieder in Präsenz im Blauen Saal in Bad Nauheim ein.
Das Besondere des Curriculums an der Akademie
Kernstück des Curriculums Psychosomatische Grundversorgung ist das Arzt-Patienten-Gespräch. Ein Patient* wird von seinem (Haus)arzt* nach Bad Nauheim eingeladen und beide werden vom Gespräch führenden Dozenten im Beisein der Fortbildungsteilnehmer zur Frage der momentanen Schwierigkeiten auf den Hintergrund der Lebensbiografie des Patienten und der sich entwickelnden Arzt-Patienten-Dynamik befragt. Dabei sind sowohl der Patient* als auch die Kolleginnen und Kollegen auch Subjekt des Geschehens und niemals Objekt. Auch bei den Rollenspielen können schwierige Kommunikationssituationen in der ärztlichen Praxis „spielend“ erlernt werden. Der Wechsel von Theorieteilen mit erlebnisnäheren praktischen Elementen sorgt zusammen mit dem regen interkollegialen Austausch für eine intensive Lernatmosphäre.
Das Curriculum wird als Kompaktseminar angeboten, das heißt als integrierte Veranstaltung, in der die Balintgruppen eingeschlossen sind. Es erfüllt die Vorgaben des (Muster-)Kursbuchs der Bundesärztekammer. An fünf Wochenenden werden die vorgeschriebenen 80 Unterrichtseinheiten absolviert. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer können zu jedem beliebigen Seminarwochenende beginnen und abschließen, was eine hohe Flexibilität erlaubt [6].
Balintgruppe und symptom- zentrierte Anamnese
Dass die Balintgruppe in das Curriculum integriert ist und nicht wie anderenorts ausgegliedert, hat nicht nur praktische Gründe. Während W. Schüffel die Psychosomatische Grundversorgung aus seinen Anamnesegruppen heraus entwickelte, ist für mich „Psychosomatische Grundversorgung […] letztendlich selbst Balintgruppenarbeit im weitesten Sinn“ [7]. Mit meinem Dozententeam möchte ich die diagnostischen und interventionstechnischen Fähigkeiten von Ärztinnen und Ärzten in der sprechenden Medizin fördern. Ausgehend vom Balintgruppenprinzip sollen die Lehrinhalte erlebensintensiv ausgerichtet und die Wissensvermittlung verstärkt im kollegialen Austausch erfolgen. Auch andere Fachleute unterstreichen die Bedeutung der Balintgruppe als Herzstück der Psychosomatischen Grundversorgung. So belegen 2021 Fritsche et al. [8] mittels einer Studie zwischen 2004 und 2019 mit 1.667 Ärztinnen und Ärzten im Rahmen eines Kurses Psychosomatische Grundversorgung eine überwiegend positive Einschätzung der Balintarbeit – sowohl in Bezug auf die kognitiven als auch die emotionalen Lernziele.
Ein weiteres Kernmerkmal des Curriculums der Akademie ist die symptomzentrierte Anamnese. Dabei wird im Arzt-Patientengespräch, das im Plenum stattfindet, die bio-psycho-soziale Krankengeschichte anhand der geschilderten Symptome erschlossen. Anschließend analysieren die Teilnehmenden das Hauptsymptom auf seine Bedeutung hin. Der ganze Kanon an verbaler und nonverbaler Kommunikation, Beziehungen, Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehen wird dabei miterfasst. Der nächste individuell mögliche Therapieschritt wird mit dem Patienten* und seinem (Haus)arzt* gemeinsam erörtert. Eine Dokumentation und eine grafische Darstellung der Biografie, der Symptom- und Krankheitsereignisse und überdauernden Stimmungen werden als Parabel, ähnlich einer Zeitlinie, erstellt. Am Nachmittag werden die entsprechenden nonverbalen und verbalen Gesprächstechniken herausgearbeitet.
An den Kompaktwochenenden findet ein steter interaktiver Austausch zwischen den Teilnehmenden und Dozenten* statt, wobei die Psychodynamik der Arzt-Patienten-Beziehung nicht nur vermittelt wird, sondern unmittelbar selbst erfahren wird. Es werden Arzt-Patientengespräche als Rollenspiele simuliert. In den Balintgruppen-Anteilen werden psychodynamische Prozesse in der Arzt-Patienten-Beziehung reflektiert. Das erleichtert die Übertragung der Lerninhalte in der Praxis.
Ausblick
Auf das 30. Curriculum werden noch viele folgen, frei nach dem Prinzip „Kontinuität durch Wandel“. Durch Klausurtagungen der Dozenten* und die Berücksichtigung der Rückmeldungen der Teilnehmenden entwickelt sich das Curriculum stetig weiter. Die Evaluationsbögen bezeugen eine hohe Zufriedenheit. Gerade in Zeiten der fortschreitenden Ökonomisierung des Gesundheitswesens und des Einzugs von mehr Bürokratie und den Herausforderungen durch die Künstliche Intelligenz sollen das Interesse und die Freude an einer vertieften und damit menschlicheren Wahrnehmung der eigenen Patientinnen und Patienten, aber auch an der persönlichen Begegnung mit Kolleginnen und Kollegen unterschiedlichster Fachrichtungen die Motivation für den gewählten ärztlichen Beruf stärken.
Pierre E. Frevert, Facharzt für Psychosomatische Medizin, Psychiater, Psychotherapeut und Psychoanalytiker, Oeder Weg 9, 60318 Frankfurt, E-Mail: info@pierre-frevert.de
Die Literaturangaben finden Sie hier.
* Die weibliche Form ist eingeschlossen.
Curriculum Psychosomatische Grundversorgung | |
Termine: | Fr., 15.–Sa., 16. November 2024 Fr., 24.–Sa., 25. Januar 2025 (Block 1) |
Information und Anmeldung: | Andrea Flören, Fon: 06032 782-238, E-Mail: andrea.floeren@laekh.de |
Kurzlink: | https://tinyurl.com/2s44fnsy |