Das Leben retten ist eine unserer vornehmsten Aufgaben als Ärztinnen und Ärzte. Das sehen nicht nur Notärztinnen und -ärzte so, sondern natürlich auch die Menschen in unserem Land und in der ganzen Welt. Aber betrifft Lebensrettung wirklich nur den akuten Einsatz am Unfallort oder beim frischen Herzinfarkt? Betrifft das nur unsere Profession, Rettungs- und Feuerwehrkräfte, Ersthelfer und zufällig am Unfallort anwesende Menschen? Oder geht es nicht eigentlich schon viel früher los? Gehören nicht auch z. B. Vorsorgemaßnahmen, gesunde Lebensumstände oder auch in der Bevölkerung breit verankerte Kenntnisse über Erste Hilfe dazu?

Darüber kam ich ins Nachdenken, als ich kürzlich eine Führung über den Alten Friedhof in Gießen erleben durfte. Natürlich kommen beim Betrachten der zum Teil sehr alten Gräber Gedanken an die vielen Verstorbenen, die dort liegen. Schätzungen zufolge wurden auf dem Alten Friedhof im Laufe von fünf Jahrhunderten ungefähr 28.000 Verstorbene beerdigt. Was haben sie in ihrer Zeit erlebt? Was haben sie uns hinterlassen?

Da ist zum Beispiel Wilhelm Conrad Röntgen (* 27. März 1845 im heutigen Remscheid; † 10. Februar 1923 in München), der zum 1. April 1879 auf eine ordentliche Professur in Gießen berufen wurde. 1895 gelang ihm, dann allerdings im Physikalischen Institut der Universität Würzburg, die Entdeckung der von ihm so genannten „X-Strahlen“, die im Deutschen den Namen „Röntgenstrahlen“ erhielten. Diese Entdeckung revolutionierte die medizinische Diagnostik und ist heute trotz weiterer bildgebender Verfahren aus der modernen Medizin nicht wegzudenken. Damit wurde er zweifelsohne zu einem bedeutenden Lebensretter. Es war übrigens Röntgens testamentarischer Wunsch, auf dem Alten Friedhof in Gießen, wo bereits seine Eltern begraben waren, seine letzte Ruhestätte zu finden.

Ihm gegenüber ruht Georg Haas (* 24. April 1886 in Nürnberg; † 6. Dezember 1971 in Gießen). Haas war von 1924 bis 1954 Direktor der Medizinischen Poliklinik in Gießen und führte in Gießen 1924 die weltweit erste „Blutwäsche“ (wie er es nannte) außerhalb des Körpers (extrakorporale Hämodialyse) mit Erfolg an einem Menschen durch. Auch Haas wurde damit ein bedeutender Lebensretter.

Die Geschichte eines weiteren Pioniers der Medizin reicht noch weiter zurück. Georg Friedrich Wilhelm Balser (* 1. April 1780 in Darmstadt; † 5. Januar 1846 in Gießen) war ein deutscher Mediziner und Politiker. Auf sein Betreiben hin wurde am 6. August 1807 die Impfpflicht im Großherzogtum Hessen und damit die erste Impfpflicht in Deutschland eingeführt. Bayern folgte am 20. August 1807. Balser, an dessen Name heute noch die St. Josefs Krankenhaus Balserische Stiftung in Gießen erinnert, reihte sich in die Gruppe der bedeutenden Lebensretter ein. Balser hinterließ uns übrigens nicht nur die Impfpflicht, sondern auch „Klugheitslehren für den praktischen Arzt“. Darin heißt es unter anderem: „Die erste Regel ist die, hoffen Sie immer das Beste von einer Krankheit; sodann leite Sie nur die reine Menschenliebe. Wo ein anderes Interesse obwaltet, da dienen Sie fremden Göttern, aber nicht denen, die Ihre Kunst schützen.“

Es gäbe noch vieles zu sagen über Impfgegner, zu denen damals auch Teile der Kirche gehörten – waren Krankheiten doch gottgegeben und die Heilung lag in Gottes Hand – , über primär renditeorientierte Gesundheitseinrichtungen (ich wähle mit Bedacht diesen neutralen Begriff) oder gut gemeinte und doch handwerklich schlecht gemachte Reformen. Für heute möchte ich mein Editorial jedoch mit einer mir neuen geschichtlichen Erkenntnis beenden, die ich bei den Recherchen für dieses Editorial gewonnen habe. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts impften nicht nur die Ärzte in Gießen, sondern auch so manch evangelischer Pfarrer propagierte das Impfen entgegen mancher kirchlichen Bedenken und impfte sogar tatkräftig höchstpersönlich, da es schlicht zu wenige Impfärzte gab. Die Geistlichen mögen mir mein inneres Seufzen vergeben, dass es heutzutage immerhin Apothekerinnen und Apotheker sind, die ebenfalls impfen, auch wenn es an Impfärztinnen und -ärzten nicht mangelt.

Dr. med. Edgar Pinkowski, Präsident