Hintergrund

Im Rahmen des Klimawandels kann es in Folge der Erderwärmung und Erhöhung der CO2-Konzentration zu verlängerten Pollenflugzeiten und zur Zunahme saisonaler Allergien kommen. Parallel nehmen bei zunehmenden Außentemperaturen und Luftbewegungen auch irritative Phänomene zu, die von Pollenallergien abzugrenzen sind.

Fallbericht

Am 11. Mai 2022 kam es an einer Gesamtschule in Wiesbaden-Biebrich zu einem Großeinsatz von Feuerwehr und Rettungsdiensten. Ca. 40 Schüler klagten in den Klassenräumen bei geöffneten Fenstern über Atemnot, Husten, Reizungen der Augen und des Rachenraumes. Die Symptome verstärkten sich, nachdem die Schüler zum Verlassen des Schulgebäudes aufgefordert wurden und sich im umbauten Schulhof aufhielten, der dicht bepflanzt ist mit Platanen.

Zunächst wurde ein Reizgasunfall bzw. ein Gasaustritt in einem nahe gelegenen Industriegebiet vermutet. Die Außentemperatur lag bei über 29 °C, es war sehr trocken und es gab lokale Windböen bis 50 km/h.

25 Kinder wurden nach Triage durch Notärzte vor Ort zur Überwachung in die Kinderklinik gebracht.

Diese zeigten folgende Symptome: Hyperventilation (8), konjunktivale Rötung, Fremdkörpergefühl (2), Brennen im Hals (3), Reizhusten (4), Dyspnoe (3), Kopfschmerzen (4). Die Sa02-Werte waren bei allen Kindern normal. 14 von 25 Kindern (13 w, 1 m ) wurden symptomatisch behandelt mit Beutel-Rückatmung (6), Lorazepam 1 mg (6), Salbutamol inhalativ (2). Eine Fremdgaseinwirkung konnte von der Feuerwehr ausgeschlossen werden. Wenige Wochen später kam es – bei ähnlichen Außenbedingungen – erneut zu einem Großeinsatz an der gleichen Schule.

Diskussion

Platanenallergien sind in Deutschland selten (Blütezeit: Mai); die Sensibilisierungsraten liegen bei unter 5 %. Die hohe Anzahl zeitgleich Betroffener macht somit eine Platanen-Allergie als Ursache des geschilderten „Massenanfalls“ unwahrscheinlich. Auch eine „Gräserpollenwolke“ war aufgrund der lokalen Gegebenheiten auszuschließen.

Nach Einschätzung aller beteiligten Fachkräfte handelte es sich um eine irritative Einwirkung von Pflanzenstäuben: An den Unterseiten von frisch ausgetriebenen Platanenblättern und deren Knospen finden sich sogenannte Trichome (Sternhaare, so genannte spiky hairs).

Im Frühsommer können diese bei Wind und Trockenheit abbrechen und als „airborne particles“ irritative Kontaktphänomene an den Schleimhäuten sowie respiratorische Symptome auslösen. Bekannt ist dieses Phänomen seit langem unter Baumpflegern, die den Platanenschnitt im Frühsommer vermeiden und angehalten sind, Schnittmaßnahmen an Platanen nur in der laubfreien Jahreszeit mit Schutzbrillen und Masken auszuführen.

Systematische Untersuchungsdaten und medizinische Literatur zu dem Phänomen fehlen bislang.

In einer Feldstudie in Australien von 2012 konnte bei 64 Betroffenen, welche ihre Symptomatik auf die lokale Konzentration von Platanen zurückführten gezeigt werden, dass 25 % auf Platanen sensibilisiert waren,75 % auf andere Pollen. In den lokalen Pollenfallen auf den umliegenden Gebäuden fanden sich zu zwei Dritteln Platanenpollen und Trichome, in individuellen nasalen Pollenfallen (die über 30 Minuten während der Symptomzeiten getragen wurden) bei acht Betroffenen überwiegend Trichome.

Ein präventives Fällen von Platanen wurde in betroffenen australischen Kommunen wie u. a. Melbourne propagiert – es ist aber unserer Einschätzung nach nicht sinnvoll, da Trichome als natürliche Bio- filter für Luftschadstoffe (z. B. Feinstaubpartikel PM 2.5) wirken. Zudem bestehen Präventionsmöglichkeiten:

  • Auf individueller Ebene das Vermeiden einer Exposition bei Kenntnis der Umgebungsbedingungen (und ggf. das Tragen von Schutzbrille/-maske).
  • Auf lokaler Ebene kann (wie auch jetzt in Wiesbaden vom Grünflächenamt praktiziert) das saisonale Aufsprühen eines Apfelpektin-Wassergemisches auf die Baumkronen helfen, die Trichome effektiv an die Blattoberfläche zu binden und so einer Verwirbelung vorzubeugen.

Schlussfolgerung

Trichome an Platanenblättern und -knospen können saisonal konjunktivale, laryngeale sowie tracheo-bronchiale Reizungen hervorrufen. Diese müssen von saisonalen, pollenassoziierten Erkrankungen wie dem allergischen Asthma und der allergischen Rhinokonjunktivitis abgegrenzt werden.

Mit zunehmenden Auswirkungen des Klimawandels ist im Frühsommer mit einer steigenden Prävalenz des neuen Phänomens „Platanenhusten“ auch in Hessen zu rechnen.

Die Kenntnis des Phänomens ist wichtig, um ggf. auf lokaler Ebene bei kritischer Infrastruktur (u. a. öffentliche Plätze, Höfe, Schulhöfe mit enger Bebauung und hoher Platanendichte) auftretende Symptome ärztlicherseits korrekt einschätzen zu können und ggf. die genannten präventiven Maßnahmen zu treffen oder zu veranlassen.

Eine enge Abstimmung mit den regionalen/kommunalen Verantwortlichen (Feuerwehr, Rettungsdienst, Behörden, wie z. B. der Grünflächenverwaltung) ist dabei im Einzelfall sehr hilfreich und geboten.

 Dr. med. Jens Gierich1,E-Mail: jens.gierich@helios-gesundheit.de

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 Dr. med. Andrea Elmer2, Dr. med. Alexa Kunze1

Helios Dr. Horst Schmidt Kliniken, Kinderklinik, Wiesbaden

DKD Helios Klinik, MVZ Pneumologie, Wiesbaden