Interdisziplinäre Anlaufstelle für Betroffene in Gießen

Female Genital Mutilation_Cutting (FGM_C) umfasst laut der WHO alle Praktiken, bei denen – ohne medizinische Indikation – die weiblichen äußeren Genitalien teilweise oder vollständig entfernt oder anderweitig verletzt werden [1]. Es gibt insgesamt vier verschiedene FGM-Typen, die in Abb. 1 dargestellt sind.

Je nach Ethnie wird die Praktik vom Säuglings- bis ins Erwachsenenalter durchgeführt, wobei es zwei Altersgipfel (Kleinkind und Pubertät) gibt. Die weltweite Prävalenz nach Ländern ist in Abb. 2 dargestellt. Die Praktik ist ethnien-, jedoch nicht religionsabhängig. In der Literatur finden sich unterschiedliche Erklärungen kultureller, soziologischer, psychosexueller, ästhetischer sowie vermeintlich gesundheitlicher Art.

FGM_C stellt einen weitreichenden Einschnitt in die körperliche Unversehrtheit von Mädchen und Frauen dar und ist somit eine Menschenrechtsverletzung. In settings mit unsterilen Instrumenten wie Rasierklingen oder Messern werden (meist) ohne Narkose unter qualvollen Schmerzen die großen und/oder kleinen Labien, mit oder ohne Klitoris(-spitze) sowie Praeputium clitoridis amputiert. In manchen Regionen, vor allem in Ostafrika, erfolgt nach der Amputation der Labien ein Verschluss (Infibulation) der Wundränder, oft mit Dornen und Seide. Durch Einlage eines Fremdkörpers (zum Beispiel eines Stöckchens) verbleibt für den Abfluss von Harn- und Menstruationsblut lediglich eine kleine Öffnung von wenigen Millimetern Durchmesser.

Unter den möglichen Primär- und Sekundärfolgen sind: Blutungen, die auch zum Verbluten führen können; (aufsteigende) Infektionen des inneren Genitale und der Harnwege mit ggf. Septitiden und dem Verlust der Nieren als Sekundärfolge; Fistel- und Zystenbildungen sowie Verletzung der Harnwege mit konsekutiven Problemen beim Wasserlassen wie z. B. Harnverhalt. Weiterhin kann jegliche Beschneidung ein immenses psychisches Trauma verursachen. Betroffene leiden teilweise lebenslang unter chronischen Schmerzen, Miktionsstörungen, Dysmenorrhoe, sexueller Dysfunktion und Infertilität. Bisweilen besteht Dialysepflicht. Auch Komplikationen in der Schwangerschaft oder während der Geburt treten nicht selten als Folge von FGM_C auf. Nach WHO-Schätzungen beläuft sich die Zahl der unmittelbaren Todesfälle bei dem Eingriff auf jährlich drei bis sieben Prozent. Durch peripartale Komplikationen oder chronische Infektionen erhöht sich die Zahl auf 25 bis 30 Prozent [4].

In manchen Ländern zeichnet sich in den vergangenen Jahren bedauerlicherweise eine zunehmende Medikalisierung des Eingriffs ab. Dies bedeutet, dass FGM_C durch ärztliches Personal durchgeführt wird.

Die Probleme und erforderlichen Behandlungsmaßnahmen nach FGM_C sind vielfältig. Von der Defibulation (Öffnung des zugenähten Introitus vaginae), die eine natürliche Geburt oder aber eine normale Blasenentleerung erst ermöglicht, bis hin zur funktionellen Genitalrekonstruktion.

Seit dem Frühjahr 2022 besteht an der Frauenklinik des UKGM Gießens unter der Leitung von Dr. med. Leonie Ströbele eine eigens eingerichtete Spezialsprechstunde für von FGM_C betroffene Frauen und Mädchen. Gynäkologische Untersuchungen finden in der FGM-Sprechstunde durch speziell geschultes Personal statt, um Fragestellungen, die im Zusammenhang mit FGM_C stehen, zu thematisieren, den FGM-Typ zu bestimmen, diesen in Gutachten zu attestieren und weitere Therapiemöglichkeiten zu besprechen und zu planen. Besteht der Wunsch bzw. Bedarf nach einer komplexeren Genitalrekonstruktion, wird die weitere Anbindung der Patientinnen an einen der Vorreiter auf diesem Gebiet PD Dr. med. Dan O’Dey am Luisenhospital Aachen organisiert.

Mit Hilfe kultursensibler Dolmetscher* innen und ausreichend Zeit wird ein Ort geschaffen, an dem es ausschließlich um die Belange der Betroffenen geht, die fluchtbedingt oft weitere traumatische Erfahrungen mitbringen.

Ein Versorgungsangebot für von FGM_C Betroffene existiert an nur wenigen Orten in Deutschland. Entsprechend groß ist der Bedarf. Es benötigt daher neben dem Ausbau der in Gießen bestehenden Sprechstunde weitere interdisziplinäre Anlaufstellen, die sich mit dem Thema FGM_C auskennen und Hilfe und Unterstützung anbieten können. Dies ist auch im Hinblick auf Prävention und Kinderschutz notwendig.

Dr. med. Leonie L. Ströbele, Prof. Dr. med. Ivo Meinhold-Heerlein

Beide: Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe (Direktor: Prof. Dr. med. Ivo Meinhold-Heerlein) UKGM Standort Gießen, Klinikstraße 33, 35392 Gießen

E-Mail: Leonie.Stroebele@gyn.med.uni-giessen.de

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Verbreitung und Anlaufstellen

Female Genital Mutilation_Cutting (FGM_C) steht für weibliche Genitalverstümmelung bzw. -beschneidung. Laut Schätzungen der WHO sind weltweit ca. 200 Millionen Mädchen und Frauen von der mehrere tausend Jahre alten Praktik unklaren Ursprungs betroffen [1, 2].

Durch die hohen Zahlen an Migrantinnen befinden sich auch in Europa inzwischen viele von FGM_C Betroffene. Es ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. Einer aktuellen Schätzung von „terre de femmes“ zufolge leben in Deutschland bis zu 103.947 betroffene Mädchen und Frauen; bis zu 17.271 Mädchen sind akut gefährdet. Auf Hessen bezogen bedeutet dies, dass bis zu 17.135 Frauen und Mädchen von FGM_C betroffen und bis zu 3.121 potenziell akut gefährdet sind [3].

In Deutschland gibt es bis dato nur wenige medizinische Anlaufstellen. Um den Betroffenen Hilfe für die vielfältigen somatischen und psychischen Leiden anbieten zu können, wurde im Frühjahr 2022 in der Frauenklinik des Universitätsklinikums Gießens eine FGM-Sprechstunde eigens eingerichtet.