Die Ärzteschaft sollte als Träger des Rassedenkens instrumentalisiert werden

Beim Umzug der Landesärztekammer Hessen (LÄKH) in das neue Gebäude an der Hanauer Landstraße tauchte aus den Archiven ein Buch aus der Zeit des Nationalsozialismus auf, das sich speziell an die Ärzteschaft richtete, um das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933 zu propagieren.

Dieses euphemistisch genannte „Erbgesundheitsgesetz“ aus der unrühmlichen deutschen Vergangenheit ist hinlänglich bekannt – es trat am 1. Januar 1934 in Kraft und diente dem NS-Staat zur Durchsetzung seiner rassenpolitischen Vorstellungen. Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ war das „Sterilisationsgesetz“ des NS-Staates. Dazu gehörten Maßnahmen, die als „Rassenhygiene“ bezeichnet wurden und auf die „Unfruchtbarmachung“ (so die Diktion) vermeintlicher „Erbkranker“ zielte – darunter wurden nicht nur Menschen mit geistiger und/oder körperlicher Behinderung verstanden, sondern beispielsweise auch Alkoholiker und Insassen von Strafanstalten.

Neu aber und in diesem Sinne „wiederentdeckt“ wurde mit dem LÄKH-Umzug jedoch dieser Kommentar der Autoren Ernst Rüdin, Arthur Gütt und Falk Ruttke, der mit dem Titel „Zur Verhütung erbkranken Nachwuchses – Gesetz und Erläuterungen“ und dem Untertitel: „... zur Ausgabe an die Mitglieder ärztlicher Spitzenverbände“ im Jahr 1934 bei dem heute noch existierenden Verlag J. F. Lehmanns, München, erschienen ist.

Die Autoren

Ernst Rüdin (1874–1952) war Schweizer, er befasste sich früh mit erbbiologischen Fragen und wurde Psychiater. Auf der Jahreshauptversammlung des Deutschen Vereins für Psychiatrie referierte er 1934: „Der Psychiater muss sich mit den Gesunden gegen Erbkranke verbünden ... Dem hohen Zuchtziel einer erbgesunden, begabten, hochwertigen Rasse muss der Psychiater dienstbar sein.“

Arthur Julius Gütt (1891–1949) war ein deutscher Arzt, Eugeniker und SS-Brigade-Führer. Er gehörte zu den einflussreichsten Medizinalbeamten im Innenministerium des NS-Staates und gilt als Autor des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“.

Falk Alfred Ruttke (1894–1955) war Jurist, Rasserechtler und SS-Sturmbannführer sowie Inhaber eines Lehrstuhls für „Rasse und Recht“.

In dem Kommentar sind außerdem zwei Beiträge von namhaften NS-Medizinern enthalten. Es sind die Artikel von Erik Lexer (1867–1937), er war 1923 und 1936 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, über die „Unfruchtbarmachung“ und die „Kastration“ beim Mann sowie von Albert Döderlein (1860–1941) über die „Unfruchtbarmachung“ und „Katastration“ der Frau. Letzterer ist Namensgeber der heute noch so bezeichneten „Döderleinflora“, weil er die speziellen Milchsäurebakterien in der Vagina entdeckte.

Folgen des Gesetzes

Bis Mai 1945 wurden zwischen 300.000 und 400.000 Menschen nach entsprechenden Urteilen von so genannten Erbgesundheitsgerichten in regionalen Krankenhäusern zwangssterilisiert. Durch die Anwendung des Gesetzes kamen etwa 5.000 bis 6.000 Frauen und etwa 600 Männer durch Komplikationen zu Tode. Zahlreich waren die langjährigen gesundheitlichen, körperlichen und psychischen Folgeschäden.

Der Band enthält neben Formularen zur Antragstellung die Regelungen, wer für welche Teilaufgabe zuständig war, welche Funktion der Öffentliche Gesundheitsdienst hatte, wie die Ernennung zu operationsbeauftragten Ärzten zu erfolgen hatte und er erfasste auch die Ausrichtung der Behandlung weg vom Individuum hin zum „Schutz“ des deutschen Volkes vor angeblichen Krankheiten und vor „Gewohnheitsverbrechern“.

Die Sprache der beiden Kommentare der Ärzte Lexer und Döderlein ist von ns-typischer rassistischer und pseudowissenschaftlicher Diktion [1]. Im Vordergrund steht die vorgeblich biologische Notwendigkeit des gewollten „ausmerzenden“ Handelns [2]. Das Interesse des Arztes sollte gemäß der NS-Ideologie weg vom einzelnen Patienten und auf das „Volk“ ausgerichtet werden.

Das Gesetz schuf die Möglichkeit nicht nur für die Durchführung der Sterilisationen- oder Kastrationsoperationen, sondern war vor allem auch ein ideologischer und propagandistischer Akt, der sowohl die Ärzte als auch die Bevölkerung erreichen sollte.

Die Ärzteschaft hatte dabei die Rolle zu übernehmen, das Rassedenken und eine erbbiologische Sichtweise zu propagieren. Dazu war die Zustimmung der Ärzteschaft notwendig, Ärzte waren Träger und ein funktionales Instrument zur Durchsetzung der NS-Rassenpolitik. „Unerwünschte Anteile“ aus der Bevölkerung, insbesondere psychisch Kranke und als auffällig Befundene sollten „ausgemerzt“ [2] werden.

Die Artikel in dem Kommentarband für die Mitglieder der ärztlichen Spitzenverbände sind ein Beitrag, die Ärzteschaft ideologisch zu formieren. Sie sollte überzeugt und handelnd zum Träger des Rassedenkens werden und sich für die Umsetzung des Gesetzes begeistern – d. h. für die „Beschaffung erbgesunden Nachwuchses“ zu sorgen.

Prof. Dr. phil. Benno Hafeneger, Dr. med. Siegmund Drexler

Nachsatz:

Menschen„rassen“ sind eine Erfindung und wissenschaftlich nicht belegbar. Ein Rassedenken gab es bereits im Mittelalter und im ausgehenden 19. Jahrhundert. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelten sich in vielen europäischen Ländern und in den USA genetisch-biologistisch sowie kulturell begründete rassistische Denkfiguren und Typenbildungen. Namen sind hier u. a. Arthur Comte de Gobineau in Frankreich und Houston Stewart Chamberlain in den USA. Rassedenken war immer mit „Rassenhygiene“ verbunden, und so gab es in Deutschland bereits 1923 in München den ersten Lehrstuhl für „Rassenhygiene“.

„Rassentheorien“ und „Rassenhygiene“ bildeten grundlegende Elemente der nationalsozialistischen Weltanschauung, und dieses Denken führte dann zu den berüchtigten „Nürnberger Gesetzen“ von 1935 – dem „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ – mit dem die gezielte und willkürliche Diskriminierung, Ausgrenzung und Vernichtung der jüdischen Bürgerinnen und Bürger vorbereitet wurde.

Zu den Autoren:

Dr. med. Siegmund Drexler engagiert sich seit 1988 für die Landesärztekammer Hessen, u. a. viele Jahre als Drogen- und Suchtberater. 2013 war Drexler, der von 1988 bis 2013 der Delegiertenversammlung angehörte, davon zwölf Jahre als Präsidiumsmitglied, Initiator des Ausschusses und Projekts „Forschung der Landesärztekammer Hessen zur geschichtlichen Aufarbeitung der Ärztekammern 1887–1956“. Maßgeblich beteiligt war er außerdem an der Herausgabe des Buches „Ärztliches Schicksal unter Verfolgung 1933 bis 1945“. Drexler setzt sich daneben als Beiratsmitglied im Förderverein der Gedenkstätte Hadamar für die Aufarbeitung von NS-Euthanasie-Verbrechen ein.

Prof. Dr. phil. Benno Hafeneger, emeritierter Professor für Erziehungswissenschaften der Philipps-Universität Marburg, ist Autor und Herausgeber zahlreicher Schriften u. a. für die Friedrich-Ebert-Stiftung. Außerdem gehört er der Redaktion des Journals für politische Bildung an. Seine Forschungsschwerpunkte sind Jugendbildung, Jugendkulturen und Rechtsextremismus. Hafeneger war Leiter der Forschungsgruppe der Landesärztekammer Hessen zur geschichtlichen Aufarbeitung der Ärztekammern 1887–1956 und Mitautor des gleichnamigen Buches.

[1] Vgl. zum Beispiel Victor Klemperer (1881–1960), LTI – Lingua Tertii Imperii, Neuauflage Reclam 2010/2020.

[2] „Ausmerzen“: Der Begriff stammt aus dem 16. Jahrhundert aus dem Bereich der Schafzucht. Dort wurden im März (Merz) die zur weiteren Zucht ungeeignet erscheinenden Tiere aus der Herde ausgesondert. Um 1900 taucht das Wort im Zusammenhang mit Fragen der sogenannten Rassenhygiene auf. „Ausmerzen“ ist eines der NS-Wörter, die sich unscheinbar und weitestgehend unbemerkt auch in unsere heutige Alltagssprache geschmuggelt haben. Vgl. z. B.: https://katapult-magazin.de/de/artikel/wir-nutzen-nazibegriffe-und-nur-eine-merkts