Schon seit mehreren Jahrzehnten fordern Ärztinnen und Ärzte im Krankenhaus die lückenlose Erfassung ihrer Arbeitszeiten. Über Ärztin-/Arztgenerationen hinweg wird beklagt, dass Überstunden, Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz und nicht genommene Pausen unter den Tisch fallen.

Die Einführung arztspezifischer Tarifverträge durch den Marburger Bund im Jahr 2006, die Ärztinnen und Ärzte in wochenlangen Streiks erkämpft hatten, war der Startschuss. Zum ersten Mal bestand die tarifvertragliche Verpflichtung, ärztliche Arbeitszeiten zu erfassen und zu dokumentieren. Noch nicht näher ausgestaltet war damals, wie dies zu erfolgen hatte. Erfassung und Dokumentation konnten elektronisch oder auf andere Art in geeigneter Weise erfolgen. Die so genannte Zettelwirtschaft war dann die meiste Zeit ärztliche Realität im Krankenhaus, dies aber mit völlig unterschiedlicher Ausprägung. Konnten einige Ärztinnen und Ärzte in ihren Abteilungen so realistisch ihre Arbeitszeiten dokumentieren, beklagten andere, dass die Dokumentation zum Teil willkürlich erfolgte oder eine ehrliche Erfassung und Wertung der tatsächlichen Arbeitszeiten verhindert oder sogar unterdrückt wurde.

Erster Schritt gelungen

2019 wurden die (tarifpolitischen) Forderungen nach einer ehrlichen und manipulationsfreien Zeiterfassung immer lauter. Nach Streiks und zähen Verhandlungen gelang es dem Marburger Bund 2019/2020, erstmals in den Tarifverträgen mit den kommunalen Kliniken sowie den Universitätskliniken und in vielen so genannten Haustarifverträgen diesen ärztlichen Wunsch umzusetzen.

Der erste Schritt war damit also gelungen: Tarifvertraglich ist abgesichert, dass mittels elektronischer Zeiterfassung oder auf andere Art mit gleicher Genauigkeit alle Anwesenheitszeiten am Arbeitsplatz zu erfassen sind und als Arbeitszeit gelten. Nur tatsächlich gewährte Pausen, private Tätigkeiten und Nebentätigkeiten, die keine Dienstaufgaben sind, dürfen abweichend gewertet werden.

Zweiter Schritt hakt

Aber wie sieht der zweite Schritt aus, nämlich diese Regelung tarifkonform umzusetzen? Da hakt es zum Teil noch ganz gewaltig. Noch immer hören wir aus zu vielen Krankenhäusern, dass die Regelungen nicht oder nicht korrekt umgesetzt werden. Während die Deutsche Krankenhausgesellschaft die Kernpunkte der Digitalisierungsstrategie des Bundesministeriums für Gesundheit unterstützt, bleiben Teile der hessischen Krankenhäuser bei der Erfassung und Dokumentation ärztlicher Arbeitszeit buchstäblich in der „Kreidezeit“. Immer noch beklagen Ärztinnen und Ärzte, dass Arbeitszeitdokumentation in manchen Krankenhäusern händisch mit Zettel und Stift erfolgt. Krankenhäuser, die moderne Arbeitsbedingungen bieten wollen, glänzen mit fehlender Vertragstreue, fehlender Arbeitszeitehrlichkeit und altertümlicher Zettelwirtschaft. Weiterhin wird dort ärztliche Arbeitszeit mehr oder weniger, das heißt zumeist weniger, genau und kontinuierlich dokumentiert und dadurch oft unvollständig oder gar nicht gewertet.

In anderen Krankenhäusern sind nur die Dienstpläne und Dienstzeiten elektronisch hinterlegt, das heißt, die Anwesenheit am Arbeitsplatz ausgehend von „Kommen und Gehen“ wird nicht positiv erfasst, sondern vom Dienstplan abweichende Anwesenheiten müssen nachträglich dokumentiert oder korrigiert werden. Das betrifft in erster Linie nicht nehmbare Pausen oder ein Weiterarbeiten nach dem vorgesehenen Dienstplanende.

Ein lückenloses Erfassen und Werten der tatsächlichen Anwesenheit am Arbeitsplatz und damit der wahren Zeit täglich eingesetzter ärztlicher Arbeitskraft wird auch so schlicht erschwert. Offensichtlich fürchten viele Krankenhäuser die Realität. Das erklärt auch die teilweise praktizierte Handhabung, dass Arbeitsstunden einfach abgeschnitten werden, wenn Ärztinnen und Ärzte über im Dienstplan hinterlegte Zeiten oder Höchstgrenzen aus dem Arbeitszeitgesetz hinaus arbeiten.

Hinzu kommt ein weiterer Umstand, der oftmals den limitierenden Faktor einer lückenlosen Zeiterfassung und Wertung als Arbeitszeit bildet: In vielen Kliniken müssen Abweichungen vom Dienstplan, insbesondere beim Weiterarbeiten über das Dienstplanende hinaus, zunächst „freigegeben“ werden. Sie erscheinen daher oft erst gar nicht in der Zeiterfassung und/oder werden nicht als Arbeitszeit gewertet, obwohl nach Tarifvertrag die gesamte Anwesenheit zu dokumentieren ist und als Arbeitszeit gilt und eine andere Bewertung der Anwesenheitszeit nur dann erfolgen kann, wenn der Arbeitgeber nachweisen kann, dass diese Anwesenheitszeiten z. B. privat veranlasst waren. Dabei haben Ärztinnen und Ärzte nach den meisten unserer Tarifverträge bei Dienstplanüberschreitungen nur im Einzelfall auf Verlangen des Arbeitgebers den Grund hierfür anzugeben, bei Überschreiten der arbeitszeitgesetzlichen Schutzvorschriften gelten hierfür unterschiedliche Regelungen.

Druck auf die Ärzteschaft

Die Tragweite dieser Regelung ist offensichtlich erst nach der Vertragsunterzeichnung bewusst geworden. Jedenfalls blockieren noch zu viele Krankenhäuser die tarifkonforme Umsetzung der Regelungen, die sie mit dem Marburger Bund vereinbart haben.

Dabei werden Abhängigkeiten von Ärztinnen und Ärzten eingesetzt, um die Regelungen ins Leere laufen zu lassen: Zeitverantwortliche beklagen oftmals, unter (ökonomischem) Druck seitens der Klinikleitungen zu stehen und nicht alle Zeiten freigeben zu dürfen. Ein Großteil derjenigen Ärztinnen und Ärzte, deren Zeiten nicht lückenlos erfasst und gewertet werden, befindet sich meist in der Abhängigkeit befristeter Arbeitsverträge, um die Facharztreife erreichen zu können, an Universitätskliniken in Forschung und Lehre weiterkommen zu können oder in anderen Drucksituationen.

Diese Abhängigkeiten gehen zum Nachteil der Ärztinnen und Ärzte. Verstöße gegen arbeitszeitrechtliche Schutzvorschriften sind dadurch ebenso vorprogrammiert wie unbezahlte ärztliche Arbeits- zeiten.

Den betroffenen Krankenhausträgern ist bekannt und bewusst, dass täglich ärztliche Anwesenheits- und Arbeitszeiten unter den berühmten Tisch fallen. Sie ignorieren die Verstöße. Die Folge sind Klageverfahren bzw. erste positive arbeitsgerichtliche Urteile, die dabei helfen, auch dieses dicke Brett zu durchbohren. Aber auch dabei wird es auf Dauer auf ärztliche Beharrlichkeit ankommen, um den zweiten Schritt – die lückenlose Erfassung und Dokumentation tatsächlich (!) geleisteter ärztlicher Arbeit – hinzubekommen. Auf den Gesetzgeber sollte man dabei nicht warten.

Hintergrund

Eine allgemeine Pflicht zur Aufzeichnung der Arbeitszeit regelt das deutsche Arbeitsrecht bisher nicht ausdrücklich. Allerdings hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) im September 2022 geurteilt, dass die gesamte Arbeitszeit aufzuzeichnen ist und der Arbeitgeber ein System einführen muss, mit dem die von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann. Dabei bezieht sich das BAG auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 14. Mai 2019, lässt aber in seinem Beschluss wesentliche Fragen offen, z. B. in welcher Form die Arbeitszeit aufzuzeichnen ist. Dementsprechend muss dies der Gesetzgeber regeln. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil stellte im April einen Entwurf zur Änderung des Arbeitszeitgesetzes vor, der aktuell sehr kontrovers diskutiert wird. Ungeachtet dessen sehen Tarifverträge des Marburger Bundes bereits seit 2019/2020 klare Regeln zu einer Erfassung der Arbeitszeit von Ärztinnen und Ärzten in Krankenhäusern vor. Um die (mangelnde) Umsetzung dieser tarifvertraglichen Regelungen in hessischen Krankenhäusern geht es in diesem Beitrag.

Andreas Wagner, Geschäftsführer Marburger Bund Hessen e. V., E-Mail: mail@mbhessen.de