Résumé und Ausblick: Dr. med. Christiane Schlang im Interview

2017 wurde mit FraPPE in Frankfurt am Main ein umfassendes Programm zur Suizidprävention ins Leben gerufen, das vom Bundesministerium für Gesundheit mit mehr als einer Dreiviertelmillion Euro gefördert wurde. Dr. med. Christiane Schlang, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie – heute Leiterin der Abteilung Psychiatrie/Psychiatriekoordinatorin des Frankfurter Gesundheitsamts – hat das Projekt an der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Universitätsklinikums Frankfurt koordiniert. Sie berichtet im Interview von den Ergebnissen und den Aufgaben kommunaler Suizidprävention.

Das Frankfurter Projekt zur Prävention von Suiziden mittels Evidenz-basierter Maßnahmen (FraPPE): Wie kam es dazu und worin unterschied sich das Projekt von der Frankfurter Einrichtung FRANS?

Dr. med. Christiane Schlang: Auf Initiative des Gesundheitsamtes wurde bereits im Juni 2014 das Frankfurter Netzwerk für Suizidprävention (FRANS) gegründet. Die Ausrichtung von FRANS, eines Zusammenschlusses von mehr als 75 Institutionen und Organisationen, in deren beruflichem Alltag suizidales Verhalten und das Thema Suizidprävention eine Rolle spielen, ist interdisziplinär.

Im April 2017 hat das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) Fördergelder in Höhe von 3,5 Millionen Euro zur Vermeidung von Suiziden und Suizidversuchen zur Verfügung gestellt. Über einen Zeitraum von drei Jahren wurden bundesweit verschiedene Projekte zur Aufklärung und Forschung im Bereich Suizidprävention gefördert.

Die Ausschreibung passte auf FRANS, doch wir brauchten Förderaspekte. So stellte die Universitätsmedizin Frankfurt gemeinsam mit dem Gesundheitsamt Frankfurt, der Zeitbild Stiftung sowie den pflichtversorgenden psychiatrischen Kliniken einen Antrag auf ein Forschungsprojekt, in dem zum einen die bisherigen Aktivitäten von FRANS ausgebaut und auf ihre Wirksamkeit hin überprüft und zum anderen weitere Evidenz-basierte Maßnahmen etabliert und evaluiert werden sollten. Im Oktober 2017 erhielt das „Frankfurter Projekt zur Prävention von Suiziden mittels Evidenz-basierter Maßnahmen (FraPPE)“ eine Förderzusage durch das Bundesministerium für Gesundheit.

Wie hat sich das Projekt in den vergangenen fünf Jahren entwickelt?

Schlang: Man kann sagen, dass das Thema „Suizidprävention“ in der Stadt angekommen ist, sei es bei Betroffenen, Angehörigen, Fachleuten, Unterstützenden, den Schulen, der Presse oder der Politik. So hat sich z. B. die Koalition im Frankfurter Römer in ihrem Koalitionsvertrag für einen Aktionsplan „Suizidsichere Stadt“ ausgesprochen. Auch einige Maßnahmen, wie Antistigmakampagnen und Fortbildungsangebote für sogenannte Gatekeeper werden weiterhin von FRANS und dem Bündnis gegen Depression Frankfurt am Main übernommen.

Durch alternative Finanzierungsmöglichkeiten konnten darüber hinaus Interventionen, wie zum Beispiel die Notfall-Hotline (069 630 13 113) oder die gut validierte Kurztherapie ASSIP, die Patientinnen und Patienten nach einem Suizidversuch zusätzlich zu einer ambulanten oder stationären Therapie empfohlen wird, in der Uniklinik Frankfurt erhalten werden.

Gibt es auch negative Aspekte?

Schlang: Kostenintensive Maßnahmen wie z. B. die rechtsmedizinische und toxikologische Analyse der Suizidfälle oder die Erhebung der Suizidversuche und ein Postventionsangebot in allen beteiligten psychiatrischen Kliniken konnten wir nicht fortführen. Leider mussten wir das Projekt nach nur drei Jahren abschließen, da ein Antrag auf Weiterförderung durch das BMG abgelehnt wurde. Aber es ist uns auf jeden Fall gelungen, Versorgungsdefizite aufzuzeigen und einige Gefahrenpunkte (sog. Hot Spots) im Stadtgebiet zu identifizieren. Das Folgeprojekt LoKI (Lokale Krisenintervention), das an der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Universitätsklinikums Frankfurt angesiedelt ist und durch die F.A.Z.-Spendenaktion „Leser helfen Lesern“ unterstützt wird, bietet in diesen Quartieren nun offene Sprechstunden als Anlaufstelle für alle an, die Hilfe in einer seelischen Krise benötigen.

Erwähnenswert ist auch, dass sich die Zusammenarbeit und Vernetzung innerhalb Frankfurts deutlich verbessert hat. Aber auch bundesweit finden die Aktivitäten von FRANS und FraPPE als Best Practice Beachtung. Immer wieder gibt es Anfragen, die Projekte in verschiedenen Kontexten vorzustellen.

Welche ärztlichen Maßnahmen zur Suizidprävention konnten Sie aus dem Projekt ableiten?

Schlang: Da Suizidprävention eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, sind die Interventionen bewusst interdisziplinär ausgerichtet. Es gibt aber auch einige Beispiele für ärztliche Maßnahmen:

Aus der Literatur ist bekannt, dass 80 % der Menschen, die an einem Suizid versterben, im Jahr vorher einen Hausarzt/ eine Hausärztin aufgesucht haben, 40 % sogar im Monat vor ihrem Suizid. Daher sind niedergelassene Allgemeinärztinnen und -ärzte ein ganz wichtiger Faktor bei der Prävention von Suiziden. Aus diesem Grund wurde in Kooperation mit dem Institut für Allgemeinmedizin ein Schulungskonzept für niedergelassene Ärztinnen und Ärzte entwickelt und zusammen mit der Zeitbild-Stiftung das Medical „Depressiv? Lebensmüde? Wege aus er Krise“ erstellt, das interessierten Kolleginnen und Kollegen kostenlos zur Verfügung gestellt wurde.

Basierend auf den Schätzungen der Zahl der Suizidversuche wird in Frankfurt nur etwa ein Viertel der Patientinnen und Patienten mit Zustand nach Suizidversuch in einer der psychiatrischen Versorgungskliniken behandelt. Somit wird eine wichtige Chance zur Tertiärprävention vergeben, was insbesondere aufgrund der Tatsache besorgniserregend ist, dass ein vorangegangener Suizidversuch einer der wichtigsten Risikofaktoren für einen erneuten Suizidversuch bzw. vollendeten Suizid ist und damit einen wichtigen Anlass für eine effektive Intervention darstellt. Mit einer Kampagne wurde in den somatischen Kliniken Frankfurts (insbesondere in den Notaufnahmen und Intensivstationen), aber auch bei Notärztinnen und Notärzten Aufmerksamkeit für die Problematik geschaffen. Begleitend wurden Aus-, Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen für alle medizinischen Berufsgruppen angeboten.

Das Institut für Rechtsmedizin wurde im Projektzeitraum bei jedem vollendeten Suizid in Frankfurt zum Leichenfundort gerufen, um vor Ort die reguläre Leichenschau durchzuführen. Im Anschluss erfolgte eine gerichtliche Leichenöffnung mit histologischer Untersuchung der Gewebeasservate und ergänzender chemisch-toxikologischer Untersuchung. Die rechtsmedizinische Untersuchung und Aufarbeitung des Sterbefalls ermöglichte die diagnostische Absicherung des Suizids, die Feststellung der Todesursache sowie der Suizidmethode. Dadurch konnte im Rahmen von FraPPE eine zuvor nicht bekannte Dunkelziffer von etwa 10 % aufgedeckt werden, was die langjährige Forderung der forensisch tätigen Kolleginnen und Kollegen unterstreicht, dass in Deutschland mehr obduziert werden muss.

War es im Rahmen des Projekts möglich, die Primärärzte zu erreichen und in die Suizidprävention einzubeziehen? Was bedeuten Ihre Erfahrungen in Hinblick auf die künftige Arbeit von Praxen und Kliniken?

Schlang: Es war leider sehr schwierig, primärärztlich tätige Kolleginnen und Kollegen für die Thematik zu gewinnen, was ich persönlich sehr bedauerlich finde. Eine (nicht repräsentative) Befragung durch das Institut für Allgemeinmedizin ergab, dass das Thema insgesamt als wenig relevant für die hausärztliche Praxis angesehen wurde. Darüber hinaus spielen sicherlich auch Aspekte, wie der Faktor Zeit oder die Einstellung der Kolleginnen und Kollegen zum „selbstbestimmten Sterben“ eine Rolle. Da in 90 % der Suizidfälle retrospektiv eine psychische Erkrankung festgestellt werden kann, wird der Begriff „Freitod“ von Fachleuten vermieden. Wird die (komorbide) psychische Störung behandelt, verschwinden in der Regel auch die Suizidabsichten. Auch vor dem Hintergrund des gesetzlich noch zu regelnden ärztlich assistierten Suizids müssen wir das Thema psychische Erkrankungen und Suizidalität im Rahmen des Medizinstudiums und der fachärztlichen Weiterbildung stärker gewichten.

Ist aus Ihrer Sicht eine mittelfristige Kooperation mit der Landesärztekammer sinnvoll?

Schlang: Die Landesärztekammer Hessen unterstützt die Arbeit des Frankfurter Netzwerks für Suizidprävention seit Beginn und das ist aus meiner Sicht ein wichtiges Zeichen an die Mitglieder, dass das Thema Suizidprävention nicht nur eine gesamtgesellschaftliche, sondern auch eine ärztliche (und berufspolitische) Aufgabe ist. Das Wissen über psychische Störungen und deren leitliniengerechte Behandlung muss in der Ärzteschaft verbessert werden. Vorbehalte, die Problematik aktiv zu explorieren, müssen abgebaut werden. Die Depressionsserie im Hessischen Ärzteblatt liefert dazu einen ganz wichtigen Beitrag. Denkbar wären zum Beispiel auch gemeinsame Fortbildungstage in Bad Nauheim und eine stärkere Berücksichtigung in verschiedenen relevanten Weiterbildungsordnungen.

Das Thema ärztlich assistierter Suizid und seine Regelung wird uns in den nächsten Jahren begleiten. Am 14. Oktober 2023 ist im Haus am Dom ein Fachtag geplant – es wäre schön, wenn sich die Landesärztekammer daran beteiligen würde.

Das Projekt sollte dazu beitragen, die Suizidrate in der Region um ein Drittel zu senken. Konnte dieses Ziel erreicht werden?

Schlang: Das Ziel war sehr ambitioniert wenn man bedenkt, dass der 2013 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verabschiedete erste Aktionsplan für seelische Gesundheit das Ziel hatte, die weltweiten Suizidraten bis zum Jahr 2020 um 10 % zu senken. Leider wurde das FraPPE-Ziel nicht erreicht, wofür verschiedene Gründe denkbar sind: Zum einen war der Evaluationszeitraum extrem kurz, zum anderen sind Schwankungen der Suizidrate, die in Frankfurt bei etwa 10/100.000 Einwohnerinnen und Einwohner liegt, normal. Daher werden erst die nächsten Jahre zeigen, ob wir die Suizidprävention in Frankfurt durch die FraPPE-Interventionen senken konnten. Die Dunkelzifferaufklärung durch die rechtsmedizinischen Interventionen verfälscht den Prä-/Postvergleich. Und letztlich ist (noch) nicht bekannt, welchen Einfluss die Pandemie und die Maßnahmen zum Eindämmen des Infektionsgeschehens mittelfristig auf das Suizidgeschehen haben.

Interview: Dr. med. Peter Zürner und Katja Möhrle

Statistische Angaben

Laut Statistik sind 717 Menschen in Hessen im Jahre 2021 durch Suizid aus dem Leben geschieden.

Im Jahr 2021 starben in Deutschland insgesamt 9.215 Personen durch Suizid – das waren über 25 Personen pro Tag. Männer nahmen sich deutlich häufiger das Leben als Frauen, rund 75 % der Selbsttötungen wurden von Männern begangen. Das durch­schnittliche Alter von Männern lag zum Zeitpunkt des Suizides bei 59,3 Jahren. Frauen waren im Durchschnitt 61 Jahre alt. Im Vergleich zum Vorjahr (9.206 Suizide) ist ein minimaler Anstieg zu verzeichnen. Insgesamt ist die Zahl der Suizide jedoch in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen: 1980 nahmen sich beispielsweise noch rund 50 Personen pro Tag das Leben.

Quellen: www.destatis.de und

https://statistik.hessen.de (red)

Hilfreiche Links

Die Webseite https://frans-hilft.de/ stellt Betroffenen, Angehörigen und Trauernden Informationen rund um das Thema Suizidalität zur Verfügung, es gibt einen Überblick über Hilfsangebote sowie diverse Materialien, die heruntergeladen oder bestellt werden können.

Fachleute finden viele relevante Informationen auf der Webseite https://frappe-frankfurt.de/, darunter zum Beispiel eine „Infobroschüre für Menschen mit Suizidgedanken“, in der detailliert beschrieben wird, wie man einen Krisen- und Notfallplan erstellen kann, aber auch Links zu Veröffentlichungen, wie den Artikeln „Tabu Suizid: Ansprache kann Leben retten“ (Der Hausarzt 8/2019) oder „Suizidprävention beim Hausarzt – Gefahr erkennen und ansprechen!“ (Der Allgemeinarzt, 2020; 42 (15) Seite 18–22).

Das Mecical „Depressiv? Lebensmüde? Wege aus der Krise“ kann unter dem Link https://www.zeitbild.de/depressiv-lebensmuede-wege-aus-der-krise/ heruntergeladen oder bestellt werden. Die Ärztemappe und das begleitende Patientenmagazin informieren über die Themen Depression und Suizid. Betroffene und Angehörige lesen, wo sie in schweren Zeiten Hilfe finden können. Das Magazin soll ihnen Mut machen, sich zu öffnen und über Probleme zu sprechen. Hausärztinnen und -ärzten bietet die Mappe wertvolle Informationen zu Diagnose und Behandlung von Depressionen sowie Ratschläge für den Umgang mit suizidalen Patientinnen und Patienten. Links zu weiterführenden Materialien und Beratungsangeboten runden das Medical ab. (red)