Ein Fall aus der Gutachter- und Schlichtungsstelle bei der LÄKH

Der Patient, Jahrgang 1983, wurde in 2020 in einer internistischen Klinik eines Krankenhauses in Hessen mit einem pulmonalen Infekt stationär aufgenommen, der in der Folge als Mykoplasmenpneumonie klassifiziert werden konnte. Zehn Tage später beklagte der Patient starke Schmerzen im rechten Unterschenkel, „wie zuvor noch nie gehabt“. Trotz ärztlichen Vermerks „Klären: Echo/Beinvenenkompression Sono/CT-Thorax“ erfolgten diese Maßnahmen erst drei Tage später, Diagnose: Ausgedehnte tiefe Beinvenenthrombose im rechten Bein bis zur Leistenregion.

Der Patient will bei der Gutachter- und Schlichtungsstelle (GuS) der Landesärztekammer Hessen prüfen lassen, ob ihm wegen der durch die Thrombose verursachten erheblichen gesundheitlichen Schädigung Schadensersatzanspruch zusteht. Insbesondere bemängelte er, dass keine sachgerechte Thromboseprophylaxe erfolgt sei und dann trotz mehrfachen Hinweises auf Schmerzen im rechten Bein eine sonografische Abklärung und Thrombosesicherung erst verzögert passierte.

Ein von der GuS beauftragter Sachverständiger – Facharzt für Innere Medizin/Angiologie/Hämostaseologie – führte in seinem Gutachten aus: Unter Berücksichtigung der Umstände, insbesondere glaubhafte Schilderung des Patienten, dokumentierte Schwere der Erkrankung und starke Medikation, sei davon auszugehen, dass bei dem Patienten eine Bettlägerigkeit bestanden habe. Dies bedeute, dass nach der AWMF-S3-Leitlinie zumindest ein mittleres Risiko für eine venöse Thromboembolie (VTE) bestanden habe, bei dem Thromboseprophylaxe durchgeführt werden „soll“. Behandlungsfehlerhaft sei deshalb die frühzeitige Prophylaxe unterblieben, Gründe dafür seien nicht ersichtlich. Mit einer adäquaten Thromboseprophylaxe könne das Risiko einer Thrombose um ca. 50–65 % gesenkt werden, sie bedeute also eine hocheffektive Maßnahme zur Risikosenkung.

Prophylaxe ist medizinischer Standard

Die Kommission hat dazu entschieden:

Die gebotene Prophylaxe ist in der S3-Leitlinie als sogenannte „Soll“- Regelung festgehalten. Daraus folgt unzweifelhaft, dass die Durchführung einer medikamentösen VTE-Prophylaxe bei dem Patienten indiziert war und dass eine solche Prophylaxe hier als geschuldeter „medizinischer Standard“ zu bewerten ist. Selbstverständlich ist eine S3-Leitlinie nicht absolut bindend, das Abweichen von der Leitlinie bedarf jedoch einer sachgerechten medizinischen Begründung und einem Abwägen der Vor- und Nachteile. Dass eine entsprechende Abwägung ärztlich erfolgte, ist aus der gesamten Dokumentation nicht ersichtlich. Daher: Die unterlassene Thromboseprophylaxe bedeutet eindeutig einen Behandlungsfehler.

Dieser Behandlungsfehler hat aber nicht ohne weiteres zur Folge, dass eine Haftung der Behandlerseite für die eingetretene Gesundheitsschädigung besteht. Im Gutachten ist nämlich zutreffend ausgeführt, dass die geschuldete Prophylaxe das Risiko einer Thrombose zwar erheblich reduziert (50–65 %), aber nicht sicher verhindert hätte.

Gericht: Patient muss Kausalzusammenhang nachweisen

Dazu ist durch den Bundesgerichtshof (BGH) geklärt: Im Arzthaftungsrecht muss der Patient nicht nur das Vorliegen eines Behandlungsfehlers, sondern grundsätzlich auch dessen für die Gesundheit nachteilige Wirkung, also den Kausalzusammenhang zwischen dem Behandlungsfehler und dem eingetretenen Gesundheitsschaden nachweisen [1]. Dieser notwendige Kausalitätsnachweis ist nicht geführt, wenn zu fast 50 % die Schädigung auch bei adäquater Behandlung – schicksalhaft – hätte eintreten können. Hier war deshalb weiter zu prüfen, ob zugunsten des Patienten eine Umkehr der Beweislast hinsichtlich der Kausalität aus dem Gesichtspunkt des groben Behandlungsfehlers anzunehmen war:

Liegt ein grober Behandlungsfehler vor, der geeignet ist, die beklagte Schädigung herbeizuführen, wird vermutet, dass der Fehler hierfür ursächlich war (§ 630h Abs. 5 Satz 1 BGB – Patientenrechtegesetzes). Die Kommission bewertet das Unterlassen der Thromboseprophylaxe hier als einen Fehler, der schlechterdings nicht in einer internistischen Klinik vorkommen darf und der deshalb als grober Fehler zu bewerten ist. Die Indikation zur Prophylaxe war unter den gegebenen Umständen absolut eindeutig, nachvollziehbare ärztliche Erwägungen, die Prophylaxe zu unterlassen, wurden nicht angestellt.

Daher ist als bewiesen anzusehen, dass die Behandlerseite das Eintreten der Venenthrombose verursacht hat, sie haftet dann für die gesamte gesundheitliche Schädigung.

Hier ist ergänzend nach zehn stationären Tagen ein weiterer Behandlungsfehler unterlaufen: Zutreffend hat der Sachverständige ausgeführt, dass gleich an dem Tag, als der Patient die massiven Schmerzen im rechten Bein klagte, die weitergehende klinische Untersuchung und adäquate Behandlung hätte durchgeführt werden müssen, (wie in der Klinik eigentlich auch erkannt, dann aber aus nicht bekannten Gründen nicht weiter verfolgt wurde), und nicht erst drei Tage später.

Auch hier ist der Patient eigentlich beweispflichtig dafür, dass bei rechtzeitiger Untersuchung und Behandlung sein Gesundheitsschaden erheblich geringer ausgefallen wäre. In gewissem Umfang ergibt sich der volle Beweis aus dem Krankheitsverlauf an sich. Soweit Unsicherheit noch besteht, ob die gesamte Schädigung sicher bei rechtzeitiger Behandlung drei Tage früher verhindert worden wäre, kommt wieder zu Gunsten des Patienten eine Umkehr der Beweislast zur Anwendung:

Die verzögerte Untersuchung bedeutet bekanntlich einen Befunderhebungsfehler, der von großer beweisrechtlicher Bedeutung ist. Ist nämlich eine gebotene Befunderhebung schuldhaft unterblieben, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein dringend behandlungsbedürftiges Ergebnis erbracht hätte, so tritt ebenfalls eine Umkehr der Beweislast hinsichtlich der Kausalität der Gesundheitsschädigung ein (§ 630h Abs. 5 Satz 2 BGB). Die rechtzeitige Befunderhebung hätte hier ohne Zweifel die entstandene Thrombose schon offenbart, die sofort adäquat hätte behandelt werden müssen. Alle Zweifel, in welchem Maße durch die adäquate unverzügliche Behandlung die Folgen hätten verhindert werden können, gehen danach zulasten der Behandlerseite.

Demnach liegen ein grober Behandlungsfehler und ergänzend ein Befunderhebungsfehler vor. Beide Fehler haben eine Beweislastumkehr hinsichtlich der Kausalität zwischen Fehler und der Gesundheitsschädigung zur Folge. Die Behandlerseite haftet daher für alle Folgen, die zwar nicht sicher, aber jedenfalls möglicherweise durch die Fehler verursacht sind.

Fazit

Der Nachweis der Kausalität zwischen einem Behandlungsfehler und einer geltend gemachten gesundheitlichen Schädigung ist oftmals für einen Patienten schwierig und hat in nicht wenigen Fällen zur Folge, dass ein Schadensersatzanspruch trotz nachgewiesenen Behandlungsfehlers nicht verwirklicht werden kann. Nach der Rechtsprechung des BGH bedarf es – wie im Schadensersatzrecht auf allen Rechtsgebieten üblich – der vollen Beweisführung der Kausalität, also eines „für das praktische Leben brauchbaren Grades an Gewissheit, der vernünftigen Zweifeln Schweigen gebietet“. Diese Beweisschwierigkeiten eines Patienten hat der BGH dadurch zugunsten eines Patienten zu mildern versucht, dass – wie oben ausgeführt – eine Umkehr der Beweislast anerkannt worden ist in Fällen eines groben Behandlungsfehlers und eines Befunderhebungsfehlers. Diese Rechtsprechung ist durch das Patientenrechtegesetz übernommen worden. Das jeweilige Ergebnis erscheint aber manchmal recht krass, eben alles oder nichts.

Zum Vergleich sei auf ausländische Rechtslage verwiesen. In Österreich ist maßgeblich: „Wenn möglicherweise mit ärztlichen Behandlungsfehlern zusammenhängende Gesundheitsschäden des Patienten vorliegen, sind wegen der besonderen Schwierigkeiten eines exakten Beweises an den Kausalitätsbeweis geringere Anforderungen zu stellen, zumal ein festgestellter schuldhafter Behandlungsfehler auf einen nachteiligen Kausalverlauf geradezu hinweist.“ Gefordert wird nur der „Nachweis einer hohen Wahrscheinlichkeit“. Der Tendenz nach entspricht das dem im amerikanischen Zivilprozessrecht allgemeingültigen „Überwiegensprinzip“, d. h. Haftung schon, wenn Kausalität nicht streng bewiesen, aber in „überwiegendem Maße“ anzunehmen ist. Ähnlich die Rechtsprechung des schweizerischen Bundesgerichtshofs: Wo nach der Natur der Sache ein direkter Beweis nicht geführt werden kann, genügt es, dass die „überwiegende Wahrscheinlichkeit“ für den behaupteten Kausalverlauf spricht. Wegen dieser anerkannten leichteren Beweisführung kennt die Rechtsprechung in den genannten Ländern nicht die Konstruktionen der deutschen Rechtsprechung zur Beweislastumkehr, mit der die sehr strengen deutschen Beweisanforderungen einen gewissen Ausgleich erfahren sollen. Eine Beweiserleichterung über die jetzige Rechtslage hinaus wird in Literatur und Praxis diskutiert.

Friedhelm Damm – VRLG a. D., Stellvertretender Vorsitzender der Gutachter- und Schlichtungsstelle bei der Landesärztekammer Hessen, E-Mail: gg.friedhelm.damm@gmx.de

[1] Martis-Winkhart, Arzthaftungsrecht RdN A 239a und K 15; OLG München 09.11.2006 1 U 2742/06 OLGR München 2007, 158–160 und OLG Saarbrücken 29.11.2000 1 U 69/00–15.