Rekonstruktion der Extremitätenfunktion aus plastisch-chirurgischer Perspektive

VNR: 2760602022153130003

Dr. med. Katrin Ettmüller, Dr. med. Thomas Schilling

Siehe auch das Abkürzungsverzeichnis weiter unten.

Einleitung

Die Versorgung von Schuss- und Explosionsverletzungen gehört im mitteleuropäischen Raum zu den seltenen Herausforderungen für die Unfallheilkunde.

Mit den Auslandseinsätzen der Bundeswehr sowie durch humanitäre Hilfszusagen stand und steht der Sanitätsdienst der Bundeswehr vermehrt vor der Herausforderung, diese Verletzungsmuster und deren Folgen unter Umsetzung moderner traumatologischer Therapiekonzepte auch im Inland zu behandeln. Es hat sich dabei gezeigt, dass diese Verletzungsentität hinsichtlich Genese, Gewebeschaden und Komplikationsträchtigkeit relevante Unterschiede gegenüber den bekannten Mustern „ziviler“ Hochrasanztraumata mit höhergradigen offenen Verletzungen aufweist.

Handelt es sich um Verletzte aus Krisengebieten, insbesondere aus Vorderasien und Nordafrika, stellen das Management des multipel keimbesiedelten Verletzten und die chirurgische Therapie der kontaminierten oder infizierten Wunde besondere Herausforderungen dar. Ausgedehnte Knochen- und Weichgewebsdefekte bei durchgehender, grober Kontamination und konsekutiver Besiedelung mit meist multi- bis panresistenten Keimen generieren für die Unfall- und Wiederherstellungschirurgie besonders anspruchsvolle Verletzungsfolgen und generieren einen erheblichen, additiven Ressourcenverbrauch. Komplizierte wie langwierige Behandlungsverläufe sind bei Gliedmaßen erhaltender Behandlung die Regel.

Prinzipiell betreffen die im vorliegenden Artikel diskutierten Verletzungen Patienten aus Krisengebieten und bewaffneten Konflikten. Sie stellen somit einen Teil des fachlichen Spektrums von Militärchirurgen oder chirurgischen Kollegen dar, die in Krisengebieten und angrenzenden Flüchtlingsgebieten eingesetzt sind.

Der Einsatz von Schusswaffen und (selbstkonstruierten) Sprengmitteln (IED) bei politisch oder religiös motivierten Terroranschlägen in den Industrienationen macht eine Grundkenntnis dieses Patientengutes auch für Kollegen fernab von militärischen oder Krisenszenarien sinnvoll [1].

Beispielhaft soll hier die Einführung des Kursformates TDSC durch die AUC genannt werden, bei der zivile Ärztinnen und Ärzte seit Jahren mit den Erstversorgungsprinzipien bei einem Massenanfall von Verletzen mittels Simulation vertraut gemacht werden können.

Mit dem vorliegenden Artikel sollen die Grundsätze der Versorgung von Schuss- und Explosionsverletzungen kurz vorgestellt werden. Mit speziellem Augenmerk auf die plastisch-rekonstruktive Chirurgie der Extremitäten werden anhand von zwei Fallbeispielen Versorgungsstrategien und ihre Besonderheiten näher erläutert.

Abkürzungsverzeichnis (alphabetisch)

ATLS

Advanced Trauma Life Support

AUC

Akademie der Unfallchirurgie

c-ABCDE-Schema

Beim cABCDE-Schema oder xABCDE-Schema handelt es sich um eine Variante des ABCDE-Schemas, bei der zu Beginn der Untersuchung eine kritische Blutung („critical bleeding“) sowie eine mögliche Verletzung der Halswirbelsäule („C-spine injury“) ausgeschlossen wird. Das cABCDE-Schema wird unter anderem bei der Untersuchung von Traumapatienten eingesetzt.

Damage Control Prinzip

Anatomische Wiederherstellung aufgeschoben zugunsten der Lebensrettung, der Stabilisierung und Normalisierung der Physiologie

DSTC

Definitive Surgical Trauma Care

IED

improvised explosive device: Eine unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung (USBV, auch Sprengfalle) ist eine nicht industriell, häufig von Experten hergestellte Brand- oder Sprengladung (bzw. Brand- oder Spreng- falle).*

TDSC

Terror and Disaster Surgical Care. Weitere Hinweise zu Kursen auf der Website der DGU (Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie)

* Quelle: Wikipedia

Versorgungskonzept

Vom Grundsatz erfolgt die Versorgung dieser besonderen Verletzungsentitäten analog zur Versorgung eines Polytraumas. An erster Stelle steht zunächst der Lebenserhalt und eine Erstversorgung nach ATLS/DSTC-Prinzipien, gefolgt von der schrittweisen Ausversorgung. Dabei ist hier die Kontrolle einer lebensbedrohlichen Blutung durch offene oder penetrierende Verletzungen („catastrophic hemorrhage“) vor das Abarbeiten des gewohnten A-B-C-Algorithmus gerückt: c-ABCDE-Schema. Nach chirurgischer Erstversorgung gemäß Damage Control Prinzipien und Mitigierung der Wundkontamination mittels Wunddébridement und -spülung, respektive Sanierung von Infekten, können Eingriffe zur Verbesserung des funktionellen Outcomes in Angriff genommen werden. Diese dienen der Korrektur sekundärer Verletzungsfolgen wie Kontrakturen oder Gewebsverlust, aber auch der Optimierung des kosmetischen Ergebnisses. Abhängig von der Schwere und dem Ausmaß der Verletzungen sowie dem Erfolg einer Infektsanierung dauert dieser Behandlungsablauf mehrere Wochen bis Monate und Jahre. Er lässt sich vereinfachend in drei Phasen einteilen. Diese Stufenversorgung sollte in Kliniken mit entsprechender Expertise erfolgen. Es muss daher frühzeitig an eine Verlegung gedacht werden, wenn das eigene Haus nicht über die Möglichkeiten der Ausversorgung verfügt.

Phase 1: Erstversorgung und Infektkontrolle

Dies erfolgt in der Regel in direkter zeitlicher und örtlicher Nähe, zumeist noch im entsprechenden Heimatland des Patienten resp. im Einsatzszenario [2]. Grundsätzlich sollte die Erstversorgung entsprechend den Damage Control Kriterien vorgenommen werden [3]. Dies beinhaltet u. a. die initiale, lebensrettende Blutungskontrolle, eine temporäre Frakturversorgung mittels Fixateur externe sowie eine Minimierung des Infektrisikos bei regelhaft ausgedehnten oder großflächigen Weichteilverletzungen mit Erstdébridement, Wundspülung und temporärer Weichteildeckung mit Feuchtverbänden oder ähnlichem.

Eine frühe Unterdruck-Wundtherapie (negative pressure wound therapy, NPWT) hat sich auch im Einsatzszenario bewährt. Geäußerte Befürchtungen zur potenziellen Gefährdung durch Anaerobier unter NPWT konnten im eigenen Vorgehen in mehr als 15 Jahren der Anwendung nicht bestätigt werden. Voraussetzung ist das konsequente Debridieren und Lavagieren, um Keimen den Nährboden zu entziehen [4, 5]. Alternativ bieten sich zunächst Feuchtverbände mit antiseptischen Lösungen an, die regelmäßig unter sterilen Bedingungen gewechselt werden müssen.

Grundsätzlich bestimmt der Verletzungsmechanismus die Versorgungsstrategie. Schusswunden und Verletzungen durch eine Explosion (Blast Injury) unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Wirkung auf das Gewebe und der systemischen Reaktion zum Teil deutlich von der Behandlung eines klassischen Polytraumas mit stumpfen oder penetrierenden Verletzungen. Einerseits betrifft dies den makroskopisch bei der Erstbeurteilung noch nicht abschließend sichtbaren bzw. einschätzbaren, ausgedehnten Gewebsschaden durch die Druckwelle bzw. primäre und sekundäre Wundhöhle. Es handelt sich grundsätzlich um Verletzungen mit einer nicht verlässlich vorhersehbaren Dynamik in ihrer Weiterentwicklung („developing wounds“).

Andererseits generieren Schuss- und Explosionsverletzungen eine tief ins Gewebe reichende Kontamination, deren klinische Auswirkungen erst im Verlauf zu sehen sind. Eine einzeitige respektive rasch in Richtung Definitivverschluss zielende Ausbehandlung ist nicht vertretbar. Die verschiedenen Wirkungen einer Explosion (Druckwelle, thermisches Trauma, Fragmente, Kontamination etc.) führen nicht nur zu aufsteigenden Schäden entlang von Gefäß- und Nervenstraßen als Weg des geringsten Widerstandes, sondern auch zu einer massiven Belastung des Gesamtorganismus (Mediatorenfreisetzung, pulmonale Schädigung usw.).

Bei der Erstversorgung sollten für Folgeeingriffe und das funktionelle Outcome relevante Strukturen (Nerven, Sehnen) so markiert werden, dass ihre spätere Identifikation i. R. rekonstruktiver Maßnahmen in den von zum Teil massiven physiologischen Umbauvorgängen geprägten Wunden mit Granulationsgewebe und Narbenbildung erleichtert wird.

Die genannten Verletzungsentitäten machen eine mehrschrittige Versorgung mit oft multiplen operativen Interventionen erforderlich. Jede OP-Entscheidung sollte sorgfältig vorausgeplant und mit allen beteiligten Disziplinen abgestimmt werden („Trauma-Schach“). Folgeoperationen und deren spezifische Erfordernisse sollten früh bedacht werden, insbesondere was das zur Verfügung stehende Gefäßsystem oder potenzielle Hebungsstellen für Lappenplastiken betrifft.

Komplikationen und Rückfalloptionen im Sinne eines „Plan B“ und gegebenenfalls „Plan C“ müssen antizipiert werden. Erschwerend kommen in dieser Versorgungsphase die regelhaft vorhandene multi- bis panresistente Besiedelung oder Infekte im Wundgebiet zum Tragen [6, 7]. Repetitive Wundabstriche und Gewebsproben helfen, die oft zu beobachtenden Variationen der nachgewiesenen Erreger über den Behandlungsverlauf hinweg und vor allem neu auftretende Resistenzen unter dem Druck einer laufenden Antibiotikumtherapie zu erkennen.

Phase 2: Anschlussversorgung

Nach gesicherter Infektsanierung bzw. -beherrschung schließt sich nun die definitive Versorgung mit Defektdeckung und Frakturversorgung an. Das Konzept der rekonstruktiven Leiter sieht als einfache Maßnahmen einen Sekundärverschluss und (Spalt-) Hauttransplantationen vor. Komplexe Wunden mit allschichtigen Defekten, aber vor allem über exponiertem, bradytrophem Gewebe wie Knochen und Sehnen wie auch neurovaskulären Bahnen, benötigen komplexere Deckungsverfahren. Lokale Lappenplastiken sind grundsätzlich sicher und operativ verhältnismäßig wenig aufwendig. Ihre begrenzte Größe bzw. Verfügbarkeit grenzen ihren Einsatz eng ein. Gestielte (Fern-)Lappenplastiken wie z. B. die Leistenlappenplastik bieten hier mehr Einsatzmöglichkeiten, vor allem an der oberen Extremität. Große Defekte und solche der unteren Extremität bedürfen in der Regel einer freien Lappenplastik, die von einem verletzungsfernen Körperteil entnommen („gehoben“) wird [8].

Eine Entnahme in unmittelbarer Nähe zur Verletzung ist aufgrund der weitreichenden Gewebsschädigung und oftmals kompromittierten Gefäßversorgung komplikationsträchtig und nicht sinnvoll. Für die zielgerichtete, zeitsparende Versorgung von traumatischen Gewebsdefekten kann der „rekonstruktive Fahrstuhl“ genutzt werden [9]: Hiermit ist nicht die schrittweise Nutzung immer komplexerer Deckungsversuche bis hin zum Behandlungserfolg gemeint, wie es der traditionell als „rekonstruktive Leiter“ bezeichnete Algorithmus beschreibt, sondern ein hiervon unabhängiges, situationsgerechtes Verfahren zur Minimierung der erforderlichen Eingriffe. Dies bedeutet gegebenenfalls auch die primäre Wahl eines sehr komplexen Verfahrens, um eine rasche und sichere Defektdeckung zu erreichen. Diese Strategie einer frühen suffizienten Deckung im Intervall begünstigt das funktionelle Ergebnis und den Extremitätenerhalt [10].

Beispielhaft für diese Philosophie wird nachfolgend Fallbericht 1 vorgestellt.

Begleitend sollte eine Frührehabilitation stattfinden, soweit dies sinnvoll und möglich ist. Hierbei sind der Erhalt bzw. die Optimierung von Restfunktion, Prophylaxe von ruhigstellungsbedingten Kontrakturen, Adhäsionen und Funktionsdefiziten einige wesentliche Faktoren.

Phase 3: Funktionelle Optimierung

Die weitere Therapie und eine realistische Einschätzung hinsichtlich der Erwartungshaltung sollten in enger Absprache mit dem Patienten und ggfs. mit Einbindung der Familie erfolgen. Auch die Compliance des Patienten ist entscheidend, wie aufwendig eine Rekonstruktion sein darf:

Nicht jeder Patient ist für jede OP geeignet. Der individuelle Anspruch sowie die operative Machbarkeit und Grenzen müssen ausführlich thematisiert werden.

Nach Konsolidierung der Weichteile und knöcherner Konsolidierung kann schließlich die Planung der langfristigen Rekonstruktion und der Funktionserhalt bzw. -verbesserung geplant werden.

Hierbei sind motorische Ersatzoperationen oder zweizeitige Rekonstruktionen z. B. mit Nerveninterponaten als Kabeltransplantat (analog zu einem mehradrigen Kabel zusammengelegte kleine Spendernerven zur Rekonstruktion eines größeren Nerven) oder andere neurorekonstruktive Verfahren bei Nervenschäden oder schwerwiegenden Muskeldefekten zu erwähnen. Letztgenanntes Verfahren setzt jedoch einen mechanisch intakten und ansteuerbaren Muskel voraus. Der Funktionsverlust durch Destruktion oder fettige Degeneration eines Zielmuskels lässt sich nur noch durch eine Ersatzplastik kompensieren.

Zu knöcherner Rekonstruktion bei regelmäßig ausgedehnten Substanzdefekten haben sich der Segmenttransport im Sinn der Kallusdistraktion (Kallotasis) und die Masquelet-Technik bewährt [11, 12]. Letztere ist allerdings auf eine Spongiosaentnahmestelle für die Transplantation angewiesen, um die in der Regel erheblichen Substanzdefekte aufzufüllen.

Ein ossärer Segmenttransport eignet sich neben dem Aufbau diaphysärer Defekte auch z. B. zur Stumpfverlängerung, sollte die bestehende Stumpflänge oder -form nicht für eine exoprothetische Versorgung ausreichend geeignet sein.

Ein interdisziplinäres Versorgungskonzept ist von Anfang an erstrebenswert. Hierbei ist insbesondere die Zusammenarbeit von plastisch-rekonstruktiven Chirurgen sowie Unfallchirurgen und Orthopäden essenziell. Grundsätzlich bestimmt das Verletzungsmuster den Umfang der hinzuzuziehenden Fachdisziplinen. Traditionell verfügen nur einige wenige Kliniken über die gesamte Expertise (z. B. gefäßchirurgische Kompetenz) innerhalb einer Abteilung. Es hat sich bewährt, hausintern die führende, primär verantwortliche und koordinierende Fachdisziplin in jedem Fall klar zu benennen. Patienten mit entsprechenden Komplexverletzungen sollten daher frühzeitig in septisch-plastisch-rekonstruktive Fallkonferenzen (Traumaboard o. ä.) eingesteuert werden. Dies kann auch unter Nutzung telemedizinischer Ressourcen erfolgen.

Unabhängig davon ist in jeder Stufe, jedoch vor allem in Stufe 2 und 3, eine enge Rücksprache der Behandler untereinander von Bedeutung. Nicht nur Unfallchirurgen und Plastische Chirurgen müssen ihre Operationen untereinander abstimmen. Auch Prothesenbauer, Psychotherapeuten, Reha-Mediziner, Berufshelfer, Arbeitgeber/Dienstherr sind hier mit einzubeziehen: Eine optimale operative Versorgung ist nur so gut wie ihre Nachbehandlung.

Ebenso zahlt sich die frühzeitige Beteiligung des Patienten und seines engen sozialen Umfeldes aus, um die Rekonstruktion bzw. Rehabilitation an den Bedürfnissen der Betroffenen auszurichten, als auch um die Compliance auf der Zeitachse langfristig sicherzustellen. Familienkonferenzen und eine psychologische Begleitung sind sehr hilfreich, weiterhin müssen sprachliche und kulturelle Barrieren bedacht und beseitigt werden.

Nachfolgend werden zwei exemplarische Fälle mit Fokus auf die plastisch-rekonstruktive Chirurgie vorgestellt. Sowohl der freie mikrochirurgische Gewebetransfer als auch die vorgestellte motorische Ersatzplastik waren in beiden Fällen maßgeblich für die Wiederherstellung der Lebensqualität der Betroffenen. Anhand der Fallbeispiele werden nicht nur rekonstruktive Besonderheiten der Versorgung vorgestellt, sondern auch gleichzeitig einzelne Details von Diagnostik, Therapieentscheidungen und operativen Techniken näher erläutert.

Fall 1: Freier Gewebetransfer zur Defektdeckung und Tibiarekonstruktion

Ein 25-jähriger syrischer Patient erlitt im Bürgerkrieg seines Heimatlandes durch eine Granatenexplosion schwere Verletzungen beider unterer Extremitäten. Nach Erstversorgung in Syrien erfolgte die Weiterversorgung in Tunesien. Ca. acht Monate nach Trauma wurde der Patient zur Ausbehandlung nach Deutschland vermittelt.

Bei Aufnahme zeigte sich folgende Situation (siehe Abb. 1):

  • Mittels Fixateur externe versorgte Brüche des distalen Femurs beidseits und Wundinfekt durch MRE links.
  • Nicht prothesenfähiger Stumpf nach distaler Unterschenkelamputation rechts.
  • Mittels Kirschnerdrähten und Fixateur externe versorgter Bruch des linken Unterschenkels mit nach Spalthautdeckung instabiler Narbe über einem ausgedehnten Knochen- und Weichteildefekt.
  • Nicht belastungsfähiger Fußwurzelstumpf links.

Primär wurde eine mehrzeitige Infektsanierung am linken Oberschenkel realisiert, gefolgt von Korrekturosteotomien im Bereich beider Femora und Verfahrenswechseln auf interne Fixationsverfahren. Zudem wurde mittels Stumpfkorrektur eine prothesenfähige Situation am rechten Unterschenkel geschaffen. Um dem Patienten eine belastungsfähige untere linke Extremität zu ermöglichen, war hier ebenfalls eine Korrekturosteotomie mit temporärer Ketteneinlage in Vorbereitung der angestrebten definitiven osteosynthetischen Versorgung notwendig. Die prätibiale Narbe mit einer unmittelbar dem Knochen aufliegenden Spalthaut sollte hierzu durch eine adäquate Weichteildeckung ersetzt werden, siehe Abb. 2.

Aufgrund der Defektgröße war dies nur mit Hilfe einer freien, mikrochirurgischen Lappenplastik möglich. Im Vorfeld erfolgte eine umfangreiche radiologische Diagnostik zur Abklärung der Gefäßversorgung und knöchernen Situation.

Grundsätzlich ist neben einer Röntgen- und CT (Computertomografie)-Diagnostik der betroffenen Extremität eine doppler- und farbduplexsonografische Untersuchung des Spendeareals sowie der Anschlussgefäße als auch eine Angiografie des operativen Zielgebietes erforderlich. Insbesondere bei Patienten, die eine Explosionsverletzung erlitten haben, können okkulte Gefäßläsionen durch das Einwirken der Druckwelle und thermomechanischen Schädigung sonst nicht sicher ausgeschlossen werden.

Verschiedene Formen von freien Lappenplastiken stehen zur Defektdeckung zur Verfügung. Neben muskulären, muskulokutanen, fasziokutanen und kutanen Lappenplastiken können reine Faszienlappen entnommen werden. Die Wahl des Transplantats richtet sich nach der Defektgröße und -lokalisation und den zur Verfügung stehenden Hebearealen. Viele Lappenplastiken können zusätzlich mit knöchernen Anteilen (sogenannte chimäre Lappenplastiken) kombiniert werden, um hier gegebenenfalls simultan einen knöchernen Defekt im OP-Gebiet mit zu versorgen. Von Vorteil ist hier, dass der knöcherne Anteil der Lappenplastik vaskularisiert ist, während die oben beschriebenen Verfahren zur Knochenrekonstruktion (Spongiosa oder corticospongiöse Späne) auf eine bereits im Vorfeld adäquat eingeheilte Weichteildeckung angewiesen sind und vom umgebenden Gewebe aus neovaskularisiert und integriert werden müssen.

Grundsätzlich sollte der venöse und arterielle Anschluss der Lappenplastiken im Gesunden erfolgen, um das Risiko von thrombotischen Verschlüssen der Stielgefäße infolge traumabedingter Intimaschäden mit nachfolgendem Verlust des Gewebetransfers zu minimieren. Dies ist gegebenenfalls durch ein- oder zweizeitig gelegte Veneninterponate (arterio-venöser Loop) sicherzustellen.

Mit Einzug der perforatorbasierten Lappenchirurgie und Dank der technischen Fortschritte in der Mikrochirurgie hat sich inzwischen eine Vielzahl von unterschiedlichen freien Lappenplastiken etabliert [13]. Die aufgrund ihrer Größe, ihres Gefäßdurchmessers und ihrer -stiellänge gebräuchlichsten freien Lappenplastiken sind die Musculus-latissimus-dorsi-Lappenplastik und die ALT(anterior lateral thigh)-Lappenplastik [14].

Im hier beschriebenen Fall kam aufgrund der Größe des Defektes die klassische Latissimus dorsi-Lappenplastik zur Anwendung. Der Defekt konnte unter Einbeziehung einer Hautinsel suffizient gedeckt werden.

Nach sicherem Einheilen der Lappenplastik konnte ca. ein Monat später die Versorgung der darunter liegenden Tibiadefektzone mit Einbringen von Beckenkammspongiosa und Marknagelung erfolgen. Zwischenzeitlich ist der Patient ausversorgt und nach abgeschlossener Prothesenversorgung des rechten Unterschenkels sowie Schuhzurichtung links in der Lage, ohne zusätzliche Hilfsmittel frei zu gehen, siehe Abb. 3 & 4.

Fall 2: Motorische Ersatzplastik bei traumatischem Radialisschaden

Ein 42-jähriger Patient erlitt im Ukrainekonflikt eine Blast injury infolge eines Granateinschlages in eine Haubitze, die er bediente. In Kiew erfolgte zunächst die Primärversorgung, bevor der Patient etwa einen Monat nach Verletzung zur weiteren Therapie nach Deutschland verlegt wurde. Bei Aufnahme zeigte sich folgendes Verletzungsmuster, siehe Abb. 5:

  • Mehrfragmentäre Humerusfraktur links.
  • Mehrfragmentäre proximale Ulna- und Radiusfraktur links mit persistierender Ellenbogenluxation.
  • Partielle Radialisparese links.
  • Mehrfragmentäre supracondyläre Femurfraktur links.
  • Traumatische Fingeramputation D5 links.
  • Multiple Weichteilverletzungen.
  • Multiple Fremdkörpereinsprengungen im Bereich des Gesichtes und partiell des Auges.

Sämtliche Wunden waren mit multiresistenten Keimen kontaminiert und wiesen zum Teil putride Fisteln mit Osteomyelitis der darunter liegenden Skelettanteile auf.

Die 1. Phase der Behandlung erwies sich als sehr zeitaufwendig und zog sich über Monate hin. Die Infektsanierung mit wiederholten operativen Débridements und Vakuumtherapie war durch Infektrezidive und eine wechselnde Keimflora geprägt. Im Rahmen einer fächerübergreifenden Zusammenarbeit wurden die Verletzungen des Gesichtes mit behandelt. Für den Behandlungserfolg entscheidend war weiterhin eine durchgehende Präsenz von Sprachmittlern, der psychotraumatologischen Betreuung sowie die Einbindung in ein soziales Netzwerk vor Ort, um die Folgen der hygienisch-räumlichen, sprachlichen und kulturellen Isolation zu mildern.

In Phase 3 der Behandlung machte ein persistierender Ausfall des N. radialis am linken Oberarm bzw. Ellenbogen mit der klassischen Symptomatik einer aufgehobenen Finger- und Daumenstreckung die Rekonstruktion der ausgefallenen Funktionen mittels einer individuell der Defektsituation angepassten, motorischen Ersatzplastik notwendig.

Motorische Ersatzplastiken bieten sich an, wenn ein nervenschadenbedingter Funktionsverlust nicht konservativ oder durch Nervennaht bzw. Nerveninterponate („Kabeltransplantate“) behoben werden kann. Sie finden seit dem Ende des vorletzten Jahrhunderts Verwendung und haben zum Prinzip, dass ein funktionierender Muskel mit Sehne auf eine Sehne ohne Funktion umgesetzt wird [15, 16]. Die erforderlichen Lernvorgänge zur kortikalen Reprogrammierung des Bewegungsmusters sind auch noch im hohen Alter möglich. Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Ersatzplastik sind eine erhaltene freie passive Beweglichkeit der betroffenen Gelenke, das Vorhandensein geeigneter Ersatzmuskeln, deren Funktion von anderen Muskelgruppen übernommen werden kann und eine hohe Compliance für die Rehabilitation.

Verschiedene Techniken des Sehnentransfers zur Kompensation des N.-radialis-Ausfalls sind bekannt, von denen sich keine als überlegen durchgesetzt hat. Allen Techniken gemeinsam ist, die drei motorischen Funktionen des N. radialis wiederherzustellen:

  1. Handgelenkextension (M. extensor carpi radialis brevis und longus).
  2. Daumenextension (M. extensor pollicis longus).
  3. Fingerextension in den Metakarpophalangealgelenken (M. extensor digitorum communis).

Um die postoperativen Umlernprozesse zu erleichtern, kann ergänzend zu den klassischen physio- und ergotherapeutischen Verfahren die propriozeptive neuromuskuläre Fazilitationstechnik (PNF) und Spiegeltherapie angewendet werden [17].

Im hier beschriebenen Fall wurde der M. flexor carpi ulnaris mit den Sehnen der Fingerstrecker gekoppelt. In leichter Abwandlung der bekannten N.-radialis-Ersatzverfahren wurde im vorliegenden Fall der M. flexor profundus des Kleinfingers mit der Sehne des M. extensor pollicis longus verbunden, da dieser nach traumabedingtem Verlust des 5. Strahls zur Verfügung stand, ohne einen zusätzlichen Spenderfinger in Mitleidenschaft zu ziehen (siehe Abb. 6). Eine Rekonstruktion der Handgelenkstrecker war nicht erforderlich, da hier klinisch und neurophysiologisch eine ausreichende Restfunktion bestand.

Nach Rückkehr in sein Heimatland erfolgte im weiteren Verlauf eine erneute stationäre Aufnahme zur prothesengestützten Rekonstruktion des destruierten Ellenbogens. Ein chirurgisch nicht beherrschbarer Implantatinfekt machte leider einen Prothesenausbau erforderlich. Letztendlich kam der versteifte Ellenbogen über eine Knochenzementplombe und gestielte Split-Latissimus-dorsi-Lappenplastik zur Ausheilung.

Als Ergebnis einer sich über mehr als zwei Jahre hinziehenden Versorgung ist der Patient nun mit einem deutlich bewegungsumfangsgeminderten Kniegelenk links über kurze Strecken im Alltag mobil und nutzt den linken Arm für leichte Alltagsverrichtungen. Die Ersatzplastik am linken Handgelenk ermöglichte eine selbstständige Körperhygiene und Selbstversorgung im häuslichen Umfeld.

Zusammenfassung

Die vorgestellten Fallberichte geben einen kurzen Einblick in die Möglichkeiten der plastisch-rekonstruktiven Chirurgie bei Schuss- und Explosionstraumata. Diese Verletzungsentitäten sind regelhaft komplex und bedürfen vieler Folgeeingriffe. Die begleitenden thermischen Schäden bei Explosionsverletzungen und die regelhafte Besiedelung oder Infektion mit multiresistenten Erregern stellen eine besondere fachliche, personelle, logistische und infrastrukturelle Herausforderung für die behandelnde Einrichtung dar. Die Versorgung bedarf eines interdisziplinären Ansatzes mit Fokus auf septische, orthopädisch-unfallchirurgische und plastisch-rekonstruktive Chirurgie. Das Behandlungskonzept ist mehrstufig und kann sich über Monate bis Jahre hinziehen. Je nach Schwere des ursächlichen Traumas verbleiben erhebliche Bewegungs- und Funktionseinschränkungen der betroffenen Gliedmaßen.

Dr. med. Katrin Ettmüller, Dr. med. Thomas Schilling, Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz: Abteilung für Unfallchirurgie und Orthopädie, Wiederherstellungschirurgie, Handchirurgie und Verbrennungsmedizin; E-Mail: BwZKrhsKoblenzPresseoffz@bundeswehr.org

Die Literaturhinweise finden Sie am Ende dieser Seite unter „Artikel herunterladen“ in der PDF-Version dieses Artikels.

Multiple Choice-Fragen

Die Multiple Choice-Fragen zu dem Artikel „Schuss- und Explosionsverletzungen: Rekonstruktion der Extremitätenfunktion aus plastisch-chirurgischer Perspektive“ von Dr. med. Katrin Ettmüller und Dr. med. Thomas Schilling finden Sie im Portal (https://portal.laekh.de) sowie am Ende dieser Seite unter „Artikel herunterladen“ in der PDF-Version dieses Artikels. Die Teilnahme zur Erlangung von Fortbildungspunkten ist ausschließlich online über das Mitglieder-Portal vom 25. April 2022 bis 24. Oktober 2022 möglich. Die Fortbildung ist mit zwei Punkten zertifiziert. Mit Absenden des Fragebogens bestätigen Sie, dass Sie dieses CME-Modul nicht bereits an anderer Stelle absolviert haben. Dieser Artikel hat ein Peer-Review-Verfahren durchlaufen.

Nach Angaben der Autoren sind die Inhalte des Artikels produkt- und/oder dienstleistungsneutral, es bestehen keine Interessenkonflikte.