Dr. med. Siegmund Drexler

Grundfragen in der Diskussion

Die gesellschaftliche Diskussion rund um die Legalisierung von Cannabis ist kontrovers und bis heute nicht abgeschlossen. In den Diskussionsbeiträgen und aus der Ärzteschaft sind vielfältige Argumente zu vernehmen, die sehr unterschiedlich in den Medien wiedergegeben werden. In jüngerer Zeit hat es den Anschein, als sei die Legalisierung des Zugangs zu Cannabis und die Straffreiheit des Besitzes oder der Weitergabe bestimmter Mengen von Cannabisprodukten ein Akt des Fortschritts. Ist es tatsächlich fortschrittlich, Cannabis zuzulassen? Was spricht dafür und was dagegen?

Oft steht im Vordergrund der Diskussion die reale Überforderung der Polizei und der Justiz mit der sich aus dem Betäubungsmittelgesetz und dem Strafgesetzbuch ergebenden Illegalität. Mehr als 200.000 Verfahren werden pro Jahr zur Anzeige gebracht oder eingeleitet. Versuche, den Schwarzmarkt zu regulieren, sind bisher gescheitert. Breitere Angebote des Staates für die Beratung und Betreuung sowie die Prävention, insbesondere bei Jugendlichen, sind rar.

Grundsätzlich: Darf der Staat in individuelle Lebensführungsentscheidungen eingreifen? Darf der Staat Lebensformen vorschreiben?

Erfahrungen aus der Zeit der Prohibition in den USA scheinen zu beweisen, dass der Versuch einer Verbotspolitik weder zum Erfolg noch zu einer Reduktion des Konsums führt. Auch nicht zur Eindämmung wirtschaftlicher Absichten.

Im Falle von Alkohol und Tabak hat der Staat längst, trotz der Versuche, Werbung und Verbreitung einzudämmen, eine Art Gleichgewicht bei den zweifellos suchterzeugenden sowie häufiges Kranksein und Tod herbeiführenden Substanzen gefunden. Kein ernsthafter Wissenschaftler würde leugnen, dass Alkohol und Tabak heute eine Zulassung als Lebensmittel oder als Medikament nicht mehr bekommen könnten. Darf Cannabis anders behandelt werden?

Zweifelsfrei verursacht Alkohol mehr Todesfälle, mehr Krankheiten als die anderen illegalen Drogen oder der Missbrauch von Medikamenten. Ist dies ein Argument, in ähnlicher Weise mit Cannabis umzugehen?

Milliardenschwerer Markt

Längst haben wirtschaftliche Interessen die Chancen der Zulassung von Cannabis erkannt. Die Investoren für die Zeit nach der Cannabislegalisierung scharren mit den Hufen. Sie versprechen sich einen milliardenschweren Markt und eine traumhafte Rendite für ihre Investitionen. Ist ein Teil der Diskussion über die Legalisierung wirtschaftlichen Interessen geschuldet? Mit den medizinisch zugelassenen Cannabisprodukten wurden 2021 bundesweit über 180 Mio. Euro umgesetzt.

Erfahrungen aus den Ländern, die Cannabisprodukte zugelassen haben, sind widersprüchlich. Der Deutsche Ärztetag hat darauf hingewiesen, dass die Legalisierung, trotz aller Begleitprogramme die angeboten werden, auch einen konsumverharmlosenden Effekt hat. Der Anteil, insbesondere junger Konsumentinnen und Konsumenten mit täglichem Gebrauch steigt. Dieser führt zu wahrscheinlich bleibenden gesundheitlichen Schäden.

Die Legalisierung von Cannabisprodukten 2012 in Colorado, USA, hat die Rate der cannabisbedingten Vergiftungsfälle und cannabisbezogenen Krankenhausaufnahmen mehr als verdoppelt. Die Zahl tödlicher Verkehrsunfälle unter Cannabis hat zugenommen, ebenfalls die Zahl der Suizide mit Cannabisbeteiligung.

Die erhoffte Stilllegung der Schwarzmärkte (z. B. in Kanada) hat nicht funktioniert. In keinem der Länder mit legalisiertem Cannabiskonsum ist der Schwarzmarkt verschwunden. Etwa 8 % aller Kanadier ab dem 15. Lebensjahr konsumieren Cannabis. Bis zur Legalisierung waren es etwa 5 %. Es wird geschätzt, dass etwa 35 % der Konsumenten, insbesondere der Jüngeren, sich Cannabis über illegale Quellen beschaffen.

Ist „Drugchecking“ eine Lösung?

Die vergangenen Jahrzehnte haben zu einer nachgewiesenen stetigen Zunahme des Gehalts an THC (Tetrahydrocannabinol) in Cannabis geführt. Es tauchen auch immer wieder Verunreinigungen von Cannabisprodukten auf. Die Koalitionsvereinbarung der jetzigen Regierung hat Drugchecking in ihr Programm aufgenommen und will damit auch illegal erworbenes Cannabis prüfen lassen – und Konsumenten ohne Gefahr der Strafverfolgung eine Art Qualitätssicherung anbieten.

Neben dem Drugchecking formulierten die Ampelparteien: „Wir führen die kontrollierte Abgabe von Cannabis an Erwachsenen zu Genusszwecken in lizenzierten Geschäften ein. Dadurch wird die Qualität kontrolliert, die Weitergabe von verunreinigten Substanzen verhindert und der Jugendschutz gewährleistet.“

Bei legalisiertem Konsum, der vermutlich frühestens Ende 2022, eher im Jahre 2023, in Gesetzeswerke überführt werden soll, wird davon ausgegangen, dass lizenzierte Geschäfte Cannabis vertreiben. Nicht geregelt sind die Fragen: Wer baut das an? Wer kontrolliert die Gehalte an THC und anderen Cannabisderivaten? Wo werden die Namen der Konsumenten erfasst? Gibt es eine Beratungsmöglichkeit? Bei welchen Mengen des Konsums im Monat oder im Jahr soll eingeschritten werden?

Die Befürworter der „Legalisierung“ behaupten, dass die Strafverfolgung nicht nur keine Rechtssicherheit schaffe, sondern auch die Konsumenten als „kriminelle Kiffer“ diskriminiert würden und junge Menschen in Phasen der Findung ihrer beruflichen und privaten Orientierung mit Strafverfolgungsbehörden konfrontiert und in ihrer Lebenschance behindert würden.

Konsum und Gehirnreifung

Große Studien und Bewertungen von Publikationen zweifeln nicht daran, dass bei jungem Eintrittsalter in den Cannabiskonsum und bei häufigem, oft täglichem Gebrauch, das reifende Gehirn in seiner Entwicklung bleibend geschädigt wird. Depressionen nehmen zu, Verwirrtheit, Konzentrationsstörungen und Erkrankungen aus dem Bereich der Psychosen. Die körperliche Abhängigkeit lasse sich zwar gut behandeln, die psychische Abhängigkeit jedoch sei ein großes Problem. Autofahren werde unter THC gefährlicher und die Kontrollorgane der Polizei finden mit zunehmender Häufung Cannabis als beeinflussende Substanz bei Verkehrskontrollen.

In der publizierten „Addiction“-Studie einer kanadischen Forschergruppe wird beschrieben, dass Cannabiskonsum offenbar eine bleibende Behinderung neurokognitiver Funktionen habe, die über die Zeit der Cannabisintoxikation hinaus anhalte.

Die kinder- und jugendpsychiatrischen Fachgesellschaften und -verbände in Deutschland warnen vor dem Konsum von Cannabis im jungen Alter. Sie weisen darauf hin, dass sich alle Vorsätze, die Legalisierung mit einem bestmöglichen Jugendschutz zu verbinden, in vielen Legalisierungsländern als Illusion erwiesen hätten. Studien aus den USA belegen, dass die Legalisierung von Cannabis auch dann, wenn sie nur für Erwachsene vorgesehen ist, auch bei Jugendlichen mit starkem Zuwachs beim Cannabismissbrauch sowie der Entwicklung einer Cannabisabhängigkeit einhergeht. In manchen US-Bundesstaaten mit einer Legalisierung lägen die Konsumquoten der Bevölkerung um 20–40 % höher, als im US Bundesdurchschnitt. Die Zahlen von Krankenhauseinweisungen mit Cannabisvergiftungen haben sich teilweise mehr als verdoppelt. Intensiv cannabiskonsumierende Kinder und Jugendliche brechen häufiger die Schule ab und weisen ungünstige Bildungsabschlüsse auf, als ihre nicht konsumierenden Altersgenossen.

In Portugal, das ebenfalls eine Legalisierung des Besitzes kleiner Mengen und des Konsums von Cannabis beschlossen hat, ist der Anteil von stark konsumierenden (täglich) jungen Menschen deutlich angestiegen.

Beschluss des 125. Deutschen Ärztetages

Auf dem 125. Deutschen Ärztetag (11/2021) wurde beschlossen: „Der 125. Deutsche Ärztetag 2021 warnt vor den möglichen Risiken einer Cannabislegalisierung für die Gesundheit der Konsumierenden und den möglichen Folgen für die medizinische Versorgung. Es gibt aus mehreren Ländern Hinweise, dass es im Zuge einer Legalisierung zu einem Anstieg des Konsums sowie zu einer Zunahme von cannabisbedingten Notaufnahmen kam. Auch zeigte sich ein erhöhter psychiatrischer Behandlungsbedarf. Zu Bedenken ist zudem ein erwartender Anstieg cannabisbedingter tödlicher Verkehrsunfälle und Suizide.“ Und weiter: „Die Legalisierung verharmlost auch die gesundheitlichen Gefahren, negativen Folgen und Langzeiteffekte des Cannabiskonsums bei Kindern und Jugendlichen (auf ihre psychische und physische Entwicklung).“

Und in einem anderen Antrag des gleichen Ärztetages wird darauf hingewiesen: „In Anbetracht der derzeitigen politischen Überlegung zu einem angemessenen gesellschaftlichen Umgang mit Cannabiskonsum warnt der 125. Deutsche Ärztetag 2021 vor dessen gesundheitlichen Gefahren. Betroffene junge Menschen, Erstkonsumierende und Gelegenheitskonsumierende dürfen jedoch nicht in die Illegalität gedrängt und ihnen dadurch ggfs. berufliche und gesellschaftliche Chancen verbaut werden. Deshalb sollte der Besitz geringer, noch zu definierender Mengen, an Cannabis sowie anderer Drogen zukünftig nicht mehr durch das Betäubungsmittelgesetz (BTMG) strafbewährt sein, sondern als Ordnungswidrigkeit mit einer Beratungsauflage geahndet werden.“

Gibt es ein „Recht auf Rausch“?

Die Diskussion ist momentan als offen anzusehen. Aus ärztlicher Sicht kann einer scheinbar fortschrittlichen „Legalisierungsforderung“ nur mit warnender Stimme hinsichtlich der Konsequenzen begegnet werden. Ob die Interessen des Staates an vermehrten Steuereinnahmen oder Investitionsmöglichkeiten stark genug sind, um das Cannabisproblem zu lösen, sollte mit großer Zurückhaltung und Vorsicht bewertet werden.

Die Problematik der Deutschen Cannabispolitik, auch innerhalb der Ärzteschaft, hat sich mit Blick auf Konsumquoten und Hilfestellung für Suchtkranke in der Vergangenheit orientiert an den Säulen: Prävention, Hilfen, Schadensminimierung und Angebotsreduzierung. Veränderungen der gesetzlichen Grundlagen müssen mit ausreichend ausgestatteten Evaluations- und Forschungsprogrammen begleitet werden. Nach einer Legalisierung wird ein einfacher Weg zurück nicht möglich sein.

Es gibt keine Gesellschaft, auch in der Geschichte der Menschheit nicht, ohne Aspekte von Rausch und Sucht. Ob die Rolle der heutigen Medizin vergleichbar ist mit der damaligen Rolle der Schamanen und Medizinmänner, die den Zutritt zu damals möglichen Substanzen regulierten, soll offen bleiben. Fakt ist, dass rauschhafte Erfahrungen und suchttypisches Verhalten in unserer Gesellschaft sehr breit präsent sind, z. B. im Sport, im Spiel, in der Sexualität, beim Einkaufen und beim Umgang mit Geld oder im Berufsleben.

In der Gesellschaft bildet sich immer stärker ein Individualisierungsdruck aus, mit Streben nach persönlichem Glück, nach nicht zu begrenzendem Konsum. Es ist verständlicherweise schwer, sich dem „Recht auf Rausch“ in den Weg zu stellen.

Die Lebensweise mit einer Überflutung durch Kontakte (Smartphones, Dating-Apps etc.) bei gleichzeitiger Vereinsamung des Einzelnen kann zu süchtigem Verhalten führen und trägt zur Entwicklung psychischer Krankheiten wie Depressivität bei.

Ärztlicher Auftrag

Wir als Ärzte sehen die Schattenseiten dieser Entwicklungen. Wir müssen einerseits den Vorwurf ertragen, zu wenig vor den gesundheitlichen Folgen von Extremsportarten sowie den gefährlichen Umgang unserer Gesellschaft mit Alkohol gewarnt und unzureichend Einfluss auf die gesellschaftliche Regulierung des Umgangs mit konsumierten Stoffen genommen zu haben.

Oder hat die Politik zu wenig auf die Ärztinnen und Ärzte gehört?

Die Diskussion ist und bleibt spannend und kontrovers zugleich. Die Ärzteschaft sollte ihre Einflussmöglichkeit auf die Politik nutzen und über die Landesärztekammern und die Bundesärztekammer den Kontakt zur Politik, insbesondere zum Bundesdrogenbeauftragten Burkhard Blienert suchen, um die entstehenden Regelungen möglichst im Sinne der Patienten und der Gesellschaft beeinflussen zu können.

Dr. med. Siegmund Drexler, Vorsitzender des Suchtausschusses der Landesärztekammer Hessen; Mitglied im Ausschuss „Sucht und Drogen“ der Bundesärztekammer; Kontakt per E-Mail via: haebl@laekh.de

Die Literaturhinweise finden Sie am Ende dieser Seite unter „Artikel herunterladen“ in der PDF-Version dieses Artikels.

Der Autor dankt Prof. Dr. med. Norbert Scherbaum, Direktor der Abteilung für Suchtmedizin an der psychiatrischen Klinik der Universität Duisburg-Essen, sowie Prof. Dr. med. Norbert Wodarz, Direktor der Abteilung Suchtmedizin am Universitätsklinikum Regensburg, für die Unterstützung.