Prof. Dr. med. Georg Köster

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Die Orthopädie hat durch die Fusion mit der Unfallchirurgie seit 2005 eine Entwicklung zu einem operativen Fach gemacht. Auch wenn konservative Behandlungen noch Inhalt des Weiterbildungs-curriculums sind (Tab. 1), bilden wir heute primär nahezu ausschließlich operativ tätige Kollegen aus. Versuche, das große Spektrum der konservativen Therapie des Bewegungsapparates in einem wie auch immer gearteten konservativen Orthopäden und Unfallchirurgen zu verankern, sind bisher gescheitert.

Tab. 1: Konservative Therapiemaßnahmen, nach [1]

Kognitive und Methodenkompetenz Kenntnisse

Handlungskompetenz: Erfahrungen und Fertigkeiten

Anzahl

Grundlagen manual- medizinischer Verfahren

Indikationsstellung, Überwachung und Dokumentation von Verordnungen der physikalischen Therapie bei Erkrankungen der Stütz- und Bewegungsorgane, insbesondere

- zur Prävention

- zur Frühmobilisation und Rehabilitation

Therapieoptionen einschließlich schmerztherapeutischer Maßnahmen bei degenerativ-entzündlichen Erkrankungen

Konservative Therapie einschließlich schmerztherapeutischer Maßnahmen, davon

- bei degenerativen Erkrankungen

100

- bei angeborenen und erworbenen Deformitäten im Kindes- und Erwachsenenalter

100

- bei Luxationen, Frakturen, Distorsionen

200

Injektionen und Punktionen an Stütz- und Bewegungsorganen – auch radiologisch/sonographisch gestützt, davon

75

- an der Wirbelsäule

50

Indikation, Gebrauchsschulung und Überwachung von Hilfsmitteln an den Stütz- und Bewegungsorganen, insbesondere bei Einlagen, Orthesen und Prothesen

Quelle: Weiterbildungsordnung des Facharztes für Orthopädie und Unfallchirurgie für Ärztinnen und Ärzte in Hessen 2020 (WBO 2020), gültig ab 01.07.2020 [1]

Durch Einführung der DRG ist die konservative Behandlung aus den schwerpunktmäßig weiterbildenden Kliniken weitgehend verschwunden. Schließlich ist die Vergütung der nicht operativen Therapien im ambulanten Sektor kaum kostentragend, in der Regel oft nur langfristig zu bewerten und demnach aus betriebswirtschaftlicher Sicht problematisch. Die notwendigerweise daraus abgeleitete Konsequenz, einen Teil dieser Therapieformen über IGeL-Leistungen (Individuelle Gesundheitsleistungen, die Patienten selbst bezahlen müssen) den Patienten anzubieten, hat sicherlich eine problematische Seite.

Eigenständige Therapieform

Hat sich die konservative Orthopädie und Unfallchirurgie (O & U) somit leichtsinniger Weise ins Abseits drängen lassen oder haben wir die Auswirkungen der gesundheits- und berufspolitischen Maßnahmen unterschätzt? Sind die Behandlungserfolge möglicherweise nicht ausreichend evident oder werden die Therapien gar durch andere Berufszweige wie Fachärzte für Physikalische und Rehabilitative Medizin, Hausärzte, Physiotherapeuten, Osteopathen oder Heilpraktiker ausreichend angeboten? Im europäischen Ausland existieren konservativ tätige niedergelassene Orthopäden und Unfallchirurgen bis auf wenige Ausnahmen nicht. Ist das Gesundheitssystem dort schlechter oder ist die konservative O & U verzichtbar? Diese Fragen müssen wir ernsthaft stellen und ebenso beantworten, ohne in emotionale Stellungskriege zu geraten oder gar resignierend die früheren Zeiten beschönigend zurückzuwünschen.

Die Bedeutung und der Wert der konservativen O & U ist unbestritten und hat insbesondere in Deutschland eine lange Tradition [2]. Sie stellt ebenso wie die konservative Therapie in anderen Fachbereichen sowohl eine eigenständige Therapieform als auch eine Alternative und Ergänzung zur operativen Behandlung dar und umfasst ein breites Spektrum (Tab. 2).

Tab. 2: Bereiche der konservativen Orthopädie und Unfallchirurgie1

Akupunktur

Injektionstherapie

Konservative Frakturbehandlung

Manuelle Therapie

Osteologie

Osteopathie

Pharmakotherapie

Physikalische-/Elektro-Therapie

Physiotherapie

Prävention

Rehabilitation

Schmerztherapie

Technische Orthopädie

1 alphabetisch sortiert

Eigene Facharzt-Weiterbildung?

Die Schnittmenge der Diagnosen, bei denen prinzipiell eine konservative und operative Behandlung in Betracht gezogen werden kann, ist im Vergleich zu anderen chirurgischen Fächern groß. Bereits bei der Diagnostik sind fundierte Kenntnisse beider Behandlungsoptionen erforderlich, um die Möglichkeiten des Erfolges einschätzen und die Patientinnen und Patienten über Dauer, Art und Erwartungen angemessen aufklären zu können. Dass hier bereits der „diagnostische Blick“ von den Fähigkeiten beeinflusst wird, die man erworben hat und selbst durchführt, erscheint logisch. So schauen trotz aller Fachkompetenz und Leitlinien die Wirbelsäulenchirurginnen und -chirurgen primär anders auf Patienten mit Beinschmerzen als Hüftchirurginnen und -chirurgen, Manualtherapeuten/-innen oder Akupunkteure/-innen.

Die Betrachtung der Erkrankung aus „dem eigenen Blickwinkel“ ist dabei nicht unwesentlich beeinflusst durch die sich gegenwärtig vollziehende Entwicklung zu einer immer größeren Spezialisierung in der Medizin generell. Dass diese Entwicklung ambivalent ist, steht außer Zweifel. Die Spezialisierung wird sowohl im Fach als auch von Kostenträgern (Mindestmengen) und Patienten gefordert, um ein Höchstmaß an Kompetenz und Erfahrung einzubringen. Gleichzeitig wird jedoch der Verlust der Generalisten beklagt, die das ganze Fach inklusive der operativen und konservativen Therapien beherrschen, da nur sie die adäquate Therapie unter Kenntnis aller Optionen kompetent auswählen können. Die logische Konsequenz wäre ein Facharzt für konservative O & U oder zumindest eine Teilgebietsbezeichnung mit diesem Schwerpunkt. Die Alternative, den Stellenwert der konservativen O & U in der Facharztausbildung zu erhöhen, wäre bei dem ohnehin überfrachteten Katalog nicht zielführend und würde bei konsequenter Umsetzung die ohnehin lange Ausbildungszeit noch verlängern.

Das Angebot der Arbeitsgemeinschaft nicht operativer orthopädischer Akut-Kliniken (ANOA) ist eine Option, die Weiterbildung in diesem Bereich zu verbessern [3]. Allerdings reichen derzeit 31 Kliniken in Deutschland mit diesem Konzept nicht aus, um diesen Anspruch flächendeckend zu realisieren.

Um dem Dilemma zu entrinnen, bedürfte es eines radikalen Umdenkens, welches bereits in einer Umstrukturierung des Medizinstudiums beginnt. Eine frühe Selektion zwischen chirurgisch und konservativ Interessierten und Begabten wäre ein Ansatz, damit nicht unnötig Menschen mit Anfang bis Mitte 30 zum Facharzt gelangen, die dann festzustellen, dass sie chirurgisch keine Perspektive haben und sich über Kurse die konservative O & U aneignen. Doch dafür scheint die Zeit noch nicht reif zu sein (vgl. Übersicht Tab. 3).

Tab. 3: Gründe für den derzeitigen Stellenwert der konservativen Orthopädie

Art des Einflusses

Zusammenlegung der der Fächer Orthopädie und Unfallchirurgie 2005

Ausdehnung des Weiterbildungs-Curriculums unter Aufwertung operativer Verfahren

Einführung des DRG-Systems

Verdrängung konservativer Behandlungsmethoden aus den weiterbildenden Kliniken

Vergütung der konservativen Medizin im ambulanten und stationären Bereich

Durchführung konservativer Therapien durch das Vergütungssystem erschwert

Allgemeine Entwicklung zur Spezialisierung in der Medizin

Spezialisierung in konservativer O & U wird nicht angeboten (Facharzt oder Teilgebiet)

Evidenznachweis in wissenschaftlichen Studien

Durch Aufwand der Studien (Zeiträume, Kollektivgröße) und mangelnde finanzielle Unterstützung erschwerte Bedingungen

Wichtig und zu fordern bleibt schließlich, dass die konservative O & U ebenso wie die operative auf fundierten wissenschaftlichen Erkenntnissen und Evidenz basiert. Das 2017 erschienene „Weißbuch Konservative Orthopädie und Unfallchirurgie“ [4] ist dafür ein sehr gutes Beispiel, das für alle zugänglich ist und dessen Konzept durch kontinuierliche Aktualisierung weiterverfolgt werden sollte.

Was können wir also tun?

  1. Eine realistische Betrachtung der gegenwärtigen Situation ist notwendig, um nicht fernab jeder Wirklichkeit Forderungen aufzustellen und alten Zeiten nachzutrauern.
  2. In der gegenwärtigen Weiterbildung sollte auch in den Kliniken die konservative Orthopädie und Unfallchirurgie, so lange es eben noch geht, inhaltlich dargestellt und angeboten werden (Umsetzung der Weiterbildungsordnung und Facharztprüfungen in diesem Sinne).
  3. Die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse konservativer Therapie sollten operativ tätigen Chirurgen bekannt sein und kontinuierlich vermittelt werden, ebenso umgekehrt (gemeinsame Tagungen und Sitzungen auf wissenschaftlichen Kongressen).
  4. Konservative und operative Orthopädie müssen sich den gleichen Anforderungen stellen, d. h. die Behandlung muss evidenzbasiert und wissenschaftlich fundiert sein (Unterstützung von Studien im Bereich der konservativen O & U).
  5. Die komplette Trennung von operativer und konservativer O & U sollte langfristig vermieden werden. Dieses gelingt nur, wenn die Expertisen in beiden Bereichen erlernt werden (sinnvolle Verankerung der Inhalte in der Weiterbildungsordnung zum Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie).

Die geschilderte Entwicklung nimmt ihren Lauf und folgt politischen, wirtschaftlichen und damit auch gesellschaftlichen Strömungen. Es wird nicht helfen, immer wieder und bei jeder Gelegenheit auf die Wichtigkeit der konservativen orthopädisch qualifizierten Behandlung appellartig hinzuweisen.

Die schnelle Wiederherstellung der Funktion zum Beispiel durch Austausch eines Gelenkes ist nicht zuletzt auch aus ökonomischen Gründen einfacher als die Umstellung der Lebensweise mit bewusster Ernährung, Sport und Gewichtsabnahme und die Durchführung konservativer Therapien, die für den Patienten aufwendig und mitunter kostenintensiver sind sowie eigene Aktivität erfordern. Diejenigen, die dieses wollen und sich leisten können, wenden sich aktuell dabei nicht selten an paramedizinische Therapeuten, die sich der Problematik ganzheitlich zuwenden können. Mit dem Verschwinden der konservativ tätigen Orthopäden verlieren nicht zuletzt Operateurinnen und Operateure wichtige Partner, die Patienten qualifiziert zuweisen und nach dem Eingriff kompetent weiterbetreuen. Eine Reduktion dieser Funktion auf eine an eine stationäre Einrichtung gekoppelte Zuweisungspraxis wird langfristig kein Gewinn sein und entsteht nur aus der Not, dass Krankenhäuser zunehmend den Kontakt zum ambulanten Bereich verlieren.

Es hilft keine Selbstbeweihräucherung, nicht das Nachtrauern und die Idealisierung alter Zeiten. Die konservative Orthopädie und Unfallchirurgie kann ihren Stellenwert durch junge interessierte Medizinerinnen und Mediziner wiedererlangen, die den Wert des Bereiches schätzen und durch ihre wissenschaftliche Forschung und klinische Tätigkeit in den Vordergrund rücken und beleben. Diese müssen wir mit unserer Erfahrung vor allem unterstützen.

Prof. Dr. med. Georg Köster, Ärztlicher Direktor, Chefarzt Orthopädie und Unfallchirurgie, Leiter Endoprothetik- Zentrum der Maximalversorgung Schön Klinik Lorsch, E-Mail: gekoester@schoen-klinik.de

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