Gespräch mit Prof. Dr. Dr. med. Sabine Wicker, Stellv. Vorsitzende der STIKO

Serie Teil 14: Patientensicherheit – Start- und Zielpunkt in der Qualitätssicherung

Impfen und Impfstoffe sind derzeit ein wichtiges Thema des öffentlichen Interesses. Der Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts Prof. Dr. rer. nat. Klaus Cichutek (ab S. 492) und die Stellv. Vorsitzende der STIKO Prof. Dr. Dr. med. Sabine Wicker berichten, wie Institutionen und Gremien daran arbeiten, dass eine überwachte Anwendung von Impfstoffen auf Basis aktueller wissenschaftlicher Daten gelingen kann.

Prof. Dr. Dr. med. Sabine Wicker (Foto), Fachärztin für Arbeitsmedizin und Notfallmedizin, ist die Leiterin des Betriebsärztlichen Dienstes des Universitätsklinikums Frankfurt und seit März 2020 stellvertretende Vorsitzende der Ständigen Impfkommission (STIKO) am Robert Koch-Institut (RKI), deren Mitglied sie seit 2011 ist. Hier leitet sie die Arbeitsgruppen „Impfung medizinischen Personals“ und „Hepatitis B“ und ist Mitglied in den Arbeitsgruppen „Covid-19“, „Masern, Mumps, Röteln“ und „Influenza“. Die Arbeitsschwerpunkte von Professorin Wicker sind impfpräventable Infektionen, arbeitsbedingte Infektionen, blutübertragbare Infektionen im Gesundheitswesen und beruflich indizierte Impfungen. Die Autorin von zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen ist seit 2009 im Fach Arbeitsmedizin habilitiert und u. a. als Dozentin für die Landesärztekammer Hessen aktiv. 2006 erhielt sie den Theodor-Stern-Stiftungspreis zur Förderung des Universitätsklinikums Frankfurt am Main.

Seit fast 50 Jahren erarbeitet die Ständige Impfkommission (STIKO) ihre Empfehlungen und seit der Verfügbarkeit der Covid-19-Impfstoffe steht die Arbeit des Expertengremiums ganz besonders im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Welchen Beitrag die STIKO insgesamt zur Patientensicherheit leistet, berichtet Prof. Dr. Dr. med. Sabine Wicker, Leiterin des Betriebsärztlichen Dienstes des Universitätsklinikums Frankfurt am Main und stellvertretende Vorsitzende der STIKO [1].

Was ist die „Ständige Impfkommission“ (STIKO)? Prof. Dr. Dr. med. Sabine Wicker: Die STIKO ist ein seit 1972 bestehendes unabhängig arbeitendes Expertengremium, das dem Robert Koch-Institut (RKI) zugeordnet ist und von diesem z. B. durch systematische Literaturanalysen und mathematische Modellierungen unterstützt wird. Seit Jahrzehnten werden dort die Impfempfehlungen für Deutschland entwickelt. Die Arbeit der STIKO ist sehr wichtig, da diese Empfehlungen den medizinischen Standard zu Impfungen definieren [1].

Wie sieht Ihre Arbeit für die STIKO aus?

Wicker: Ich bin seit 2011 Mitglied der Kommission und aktuell Stellvertretende Vorsitzende der STIKO. Die Arbeit erfolgt rein ehrenamtlich. Das RKI schreibt dazu auf seiner Website: „Die Mitgliedschaft in der STIKO ist ein persönliches Ehrenamt. Die Mitglieder sind bei ihrer Tätigkeit nur ihrem Gewissen verantwortlich und zu unparteiischer Erfüllung ihrer Aufgaben verpflichtet [2].“ Ich leite in der STIKO verschiedene Arbeitsgruppen, z. B. die Arbeitsgruppe medizinisches Personal und arbeite in anderen mit – beispielsweise in der Arbeitsgruppe Covid-19 [2].

Wie wird man Mitglied der STIKO?

Wicker: Für die Mitgliedschaft in der STIKO erfolgt eine Berufung durch das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) im Benehmen mit den obersten Landesgesundheitsbehörden für jeweils drei Jahre. Für die Mitglieder sind auch mehrere Berufungsperioden möglich. Aktuell arbeiten 18 Mitglieder für die Kommission. Sie stammen aus verschiedenen medizinischen Bereichen und Fachdisziplinen (z. B. Virologie, Mikrobiologie, Pädiatrie, Epidemiologie, Arbeitsmedizin, Allgemeinmedizin, Gynäkologie etc.) sowie dem öffentlichen Gesundheitsdienst [2].

Auf welcher gesetzlichen Grundlage arbeitet die Ständige Impfkommission?

Wicker: Die gesetzliche Grundlage für die Arbeit der STIKO ist das Infektionsschutzgesetz (IfSG). Dort wurde die Kommission 2001 verankert. Die STIKO erarbeitet gemäß IfSG „Empfehlungen zur Durchführung von Schutzimpfungen und zur Durchführung anderer Maßnahmen der spezifischen Prophylaxe übertragbarer Krankheiten und entwickelt Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion und einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung“ (§ 20 Abs. 2 IfSG) [3]. Umgekehrt schlagen sich auch die Empfehlungen der STIKO in verschiedenen Regelungen nieder. So bilden sie die Grundlage für die Schutzimpfungsrichtlinie (SI-RL) des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA). Sobald Impfempfehlungen dort aufgenommen sind, müssen sie von den gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) übernommen werden [1, 3–5].

Welchen Beitrag leistet die STIKO für die Patientensicherheit?

Wicker: Ein besonderes öffentliches Interesse in Bezug auf eine Impfung ist gegeben, wenn durch die Impfung Todesfälle, schwere Krankheitsverläufe und Folgeschäden vermieden werden können. Anhand der wissenschaftlichen Daten bewertet die STIKO Daten zur Effektivität und Sicherheit der Impfung in unterschiedlichen Alters- und Patientenkollektiven. Die wissenschaftlichen Empfehlungen der STIKO sind meines Erachtens auch wichtig in Hinblick auf die Impfakzeptanz in der Bevölkerung, denn nur, wenn die Bevölkerung von der Sicherheit und Effektivität einer Impfung überzeugt ist, werden sich die Menschen letztendlich für eine Impfung entscheiden.

Was ist das Besondere an den Impfempfehlungen der STIKO?

Wicker: Bei den Impfempfehlungen werden nicht nur Nutzen und Risiko für die einzelne zu impfende Person abgeschätzt, sondern auch, wie sich die Impfung auf die Gesamtbevölkerung auswirkt und wie eine Gesamtimpfstrategie für die Bundesrepublik aussehen könnte. Für Impfempfehlungen werden Daten zu Infektionen und Impfstoffen bewertet. Dabei kommen Methoden aus der evidenzbasierten Medizin (EbM) wie systematische Übersichtsarbeiten zum Einsatz. Außerdem bedient sich die STIKO für die Erstellung der Empfehlungen des Ansatzes der „Grading of Recommendations, Assessment, Development and Evaluation“ (kurz GRADE) Working Group. Weiterhin werden patientenrelevante Endpunkte bzgl. Impfstoffwirksamkeit und Sicherheit beurteilt. Auch Transparenz ist bei der Erarbeitung wichtig: So werden nicht nur die Empfehlungen an sich veröffentlicht, z. B. auf der Homepage und im Epidemiologischen Bulletin des RKI, sondern auch ausführliche Begründungen zu den Impfempfehlungen [1, 6–10].

Wie entsteht die Bewertung der Covid-19-Impfstoffe?

Wicker: Wie bei anderen Impfstoffen auch ist die systematische Literaturrecherche zu Studien bezüglich Wirksamkeit und Verträglichkeit/Sicherheit der Impfstoffe das Kernstück bei der Erarbeitung einer Impfempfehlung. Ausgangspunkt ist dabei die Formulierung sogenannter PICO-Fragen:

  • P (population): Für welche Bevölkerungsgruppe sollen Daten gesucht werden?
  • I (intervention): Welcher Impfstoff, welches Impfschema?
  • C (comparison): Wirksamkeit und Verträglichkeit im Vergleich womit (z. B. Plazebo, anderer Impfstofftyp)?
  • O (outcomes): In Bezug auf welche (vorzugsweise klinischen) Endpunkte?

Im Rahmen der SARS-CoV-2-Pandemie hat die STIKO gemeinsam mit dem Deutschen Ethikrat und der Leopoldina bereits im November 2020 ein Positionspapier zur Priorisierung des Covid-19-Impfstoffs vorgelegt. Mittlerweile (Stand 11. August 2021) gibt es die 8. Aktualisierung der Covid-19-Impfempfehlung und die dazugehörige wissenschaftliche Begründung der STIKO (www.stiko.de [6, 7, 11–13]). Die 9. Aktualisierung wird im August veröffentlicht.

Welche Besonderheiten sind bei der Bewertung der aktuellen Covid-19-Impfstoffe bei Kindern und Jugendlichen zu beachten?

Wicker: Die schnelle Verfügbarkeit von Impfstoffen auch für Kinder und Jugendliche ist prinzipiell sehr zu begrüßen. Die meisten gesunden Kinder erkranken nicht schwer nach einer SARS-CoV2-Infektion. Es muss also geklärt werden, welchen Nutzen die Kinder selbst von der Impfung haben und ob sich eine klare medizinische Indikation ergibt. Die STIKO hat die wissenschaftlichen Daten für die Impfempfehlung sorgfältig anhand der aktuell verfügbaren Daten zur Infektionsepidemiologie und der Sicherheit und Wirksamkeit der Impfstoffe im Sinne einer Nutzen-Risiko-Analyse geprüft.

Eine Impfung der Kinder sollte jedoch nicht die Voraussetzung einer erleichterten Zulassung zur Teilnahme am Schulunterricht oder anderen Aktivitäten des sozialen Lebens der Kinder sein. Die Daten der Gesundheitsämter zeigen, dass der Schulbesuch bei konsequenter Umsetzung der Hygienemaßnahmen erfolgen kann. Dies gilt insbesondere, da mittlerweile flächendeckend für die erwachsene Bevölkerung selbst das Angebot der eigenen Impfung besteht.

Welchen Beitrag leistet die Bewertung der aktuellen Covid-19-Impfungen zur Patientensicherheit?

Wicker: Am Anfang der Covid-19-Impfkampagne standen nicht für alle impfwilligen Menschen Impfstoffe zur Verfügung. Eine Priorisierung war erforderlich, um eine gerechte Verteilung und Maximierung des Public Health-Nutzens der begrenzt verfügbaren Impfstoffe sicherzustellen. Die Daten des RKI belegen, dass die Priorisierung der Impfung von Risikopersonen zur erheblichen Verminderung schwerer Erkrankungen und Todesfälle geführt hat [13].

Interview: Katrin Israel-Laubinger, Silke Nahlinger, Nina Walter

Die STIKO zur Covid-19-Impfempfehlung

Auf der Website des Robert Koch-Instituts www.rki.de werden die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) zur Covid-19-Impfung veröffentlicht und laufend aktualisiert, siehe via https://tinyurl.com/dudwzfve/.

Mittlerweile (Stand 16.08.2021) liegt die 8. Aktualisierung der Covid-19-Impfempfehlung vor und kann unter dem angegebenen Link abgerufen werden. Die 9. Aktualisierung wird im August ebenda veröffentlicht.

Derzeit wird die Covid- 19-Impfung für alle Erwachsenen ab 18 Jahren empfohlen sowie für vorerkrankte Kinder zwischen 12 und 17 Jahren mit einem erhöhten Risiko für einen schweren Verlauf einer Covid-19-Infektion. Am 16.08.2021 hat die STIKO ihre Impfempfehlung für Kinder und Jugendliche aktualisiert und empfiehlt die Covid-19-Impfung nun für die Altersgruppe zwischen 12 und 17 Jahren. Änderungen dieser Empfehlung sind möglich, da der Beschlussentwurf und seine wissenschaftliche Begründung noch das vorgeschriebene Stellungnahmeverfahren mit Bundesländern und Fachkreisen durchlaufen müssen. Die endgültige Empfehlung für diese Altersgruppe wird im Anschluss im Epidemiologischen Bulletin veröffentlicht. [14, 15]