„Klimasprechstunde“ an der Justus-Liebig-Universität Gießen

Der Masterplan 2020 wirft neue Fragen auf und stellt die Curriculumskommissionen vor die Herausforderung, den Ablauf des Medizinstudiums neu zu denken. Ideen sprudeln und Konzepte werden erarbeitet. Gleichzeitig wird oft die größte Bedrohung der menschlichen Gesundheit im 21. Jahrhundert [1] außer Acht gelassen. Wir, die Health For Future Ortsgruppe Gießen und weitere, werden aktiv und gestalten selbst unsere Lehre, denn: Gesundheitsschutz benötigt Klimaschutz.

Unsere Gesundheit ist in ein komplexes System der Wechselwirkungen zwischen Mensch, Umwelt sowie dem Planeten Erde eingebettet. Wir sprechen von planetary health [2] – ebendiesem Ansatz eines ganzheitlichen Gesundheitskonzepts, das die Verhältnisse von Gesundheit und Krankheit, Therapie und Prävention interdisziplinär umschließt und die Erdengesundheit als Voraussetzung menschlicher Gesundheit sieht [3].

Viele Krankheiten resultieren aus ungesundem Essen, mangelnder Bewegung, verschmutzter Luft, verunreinigtem Trinkwasser und Stress. All diese Dinge begründen auch auf komplexe Weise den anthropogenen Klimawandel [4]. Eine Änderung unseres Lebensstils, vor allem die Umstellung auf fleischarme, überwiegend regionale Ernährung sowie mehr Bewegung, kann einen großen Beitrag zum Klimaschutz leisten und ist gleichzeitig zentral für Therapie und Prävention besagter Volksleiden [5]. Vielfach wurde der Zusammenhang zwischen klimaschädlichem Verhalten und modernen Zivilisationskrankheiten hergestellt und in der wissenschaftlichen Debatte mit zunehmendem Evidenzgrad diskutiert. Trotzdem ist dieser Konsens noch nicht bis in die Breite der medizinischen Fachwelt vorgedrungen. So erkannte ein Pneumologe der Uniklinik Gießen die massive Bedrohungslage für die menschliche Gesundheit erst, als wir ihn als Referenten für unser Wahlfach anfragten und er die Gelegenheit nutzte, Zusammenhänge zwischen Treibern sowie Folgen der Klimakrise, Lungenkrankheiten und Allergien für sich zu vertiefen.

Wir als angehende Ärzt:innen nehmen es also selbst in die Hand, Aufklärung zu schaffen, und sehen die dringliche wie auch einzigartige Möglichkeit, die Lebensweisen unserer Patient:innen durch eine angepasste Präventionsarbeit klimafreundlich zu beeinflussen. Dies bezieht sich vor allem auf eine dauerhafte Integration des Klimawandels in die Lehrinhalte des klinischen Studienabschnitts. Das Wahlfach „Klimasprechstunde“ als studentisches Projekt an der JLU Gießen ist ein erster Versuch der praktischen Integration der Thematik ins Medizinstudium. So lernen die Absolvent:innen ihre Verantwortung im planetaren System zu reflektieren und zu fördern. Von Dozierenden werden Impulse geliefert, die die Auswirkungen von Lärm, Feinstaub oder Fehlernährung auf den menschlichen wie auch den planetaren Organismus aufzeigen, um anschließend als Diskussionsgrundlage zu dienen. Menschen in Gesundheitsberufen genießen hohes Vertrauen in der Bevölkerung und haben direkten Zugang zu unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen. Die seit jeher wichtige Aufklärungsfunktion von Ärzt:innen spielt in der Vermittlung dieser Information eine zentrale Rolle.

Auch muss in diesem Kontext erwähnt werden, dass das eigene Arbeitsumfeld, der Gesundheitssektor, weltweit für 4,4–5,2 % der Treibhausgasemissionen verantwortlich ist [6]. Wäre der Gesundheitssektor ein Land, stünde er auf Platz 5 der weltweit größten CO2-Emittenten [7]. Demnach ist auch eine Umstellung der Infrastruktur innerhalb des Versorgungssystems zu thematisieren: Wie funktioniert die Abfallwirtschaft im Krankenhaus? Wie viele CO2-Äquivalente werden bei einer Narkose ungefiltert in die Atmosphäre geblasen? Wie ist das Krankenhaus gebaut und welche Energieträger verwendet es? Selbige Frage stellt sich auch in Bezug auf jede Praxis eine:r jede:r niedergelassenen Kolleg:in. Ein Hebel, den vor allem in letzterem Fall jede:r selbst in der Hand hat und mit Leichtigkeit anpassen kann.

Im Wahlfach sollen Studierende die Möglichkeit erhalten, die aktuelle Forschung zur Klimakrise kennen zu lernen und ihre Erkenntnisse auf den klinischen Alltag praktisch zu übertragen. Wir wollen den Studierenden Kompetenzen vor allem auf der kommunikativen Ebene zum Thema Klimawandel mit Fokus auf der Gesundheitsprävention und der Wissenschaftskommunikation vermitteln.

Die Bewältigung der Klimakrise birgt die größte Chance für die menschliche Gesundheit des 21. Jahrhunderts [8]: Wer sich derer annimmt und sich für Umweltschutz einsetzt, rettet Leben – wer sich aber dagegen verschließt, handelt unserer Ansicht nach mindestens fahrlässig.

Leonard Maier & Laura Gerspacher

Die Medizinstudierenden der JLU Gießen Laura Gerspacher und Leonard Maier beschäftigen sich seit einigen Jahren privat mit den Folgen der Klimakrise. Mit Beginn des Medizinstudiums stellte sich ihnen die Frage nach den Gesundheitsfolgen ebendieser und warum diese Aspekte im Studium nicht behandelt werden. Seit dem Wintersemester 2020/21 organisieren sie gemeinsam mit anderen Studierenden eine Seminarreihe, die als klinisches Wahlfach anerkannt wird.

Nachtrag, 12.10.2021: Der Lehrverantwortliche des Wahlfachs ist PD Dr. med. Michael Knipper.

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