Wenn Sie diese Ausgabe des Hessischen Ärzteblattes in den Händen halten, werden Sie vermutlich vor Kurzem Ihre Stimmen bei der Bundestagswahl abgegeben haben. Gegebenenfalls befindet sich die potenzielle Regierung wieder in langwierigen Koalitionsverhandlungen. Vielleicht ist aber bereits die inzwischen sprichwörtlich gewordene Frage beantwortet, ob auch Männer Bundeskanzlerin werden können.

Aus feministischer Sicht ist allein diese Formulierung ein Erfolg, ermöglicht durch eine aufgeklärte Gesellschaft sowie eine bemerkenswerte Frau. Doch dass die Gleichberechtigung selbst in öffentlichen Führungspositionen enge Grenzen kennt, wurde deutlich, als im Frühjahr die Spitzenkandidaten der Parteien für die diesjährige Bundestagswahl bekannt gegeben wurden: Frauen ja, aber Frauen mit minderjährigen Kindern? Man(n) konnte es sich nicht vorstellen und verlangte eine öffentliche Rechtfertigung. Die resultierende Welle der Empörung insbesondere unter der jüngeren weiblichen Bevölkerung führte dazu, dass dies in seriösen Medien nicht weiter thematisiert wurde. Noch bis zum Redaktionsschluss Ende August ist jedoch unter dem Stichwort Annalena Baerbock in der Vorschlagsliste von Google „Annalena Baerbock Kinder“ an erster Position zu finden.

Ist das Interesse an der familiären Situation eines Kanzlerkandidaten jemals ähnlich groß gewesen? Nicht im Geringsten. Leider ist dieses grundlegende Misstrauen in die Leistungsfähigkeit von Frauen im gebärfähigen Alter und/oder mit Kindern ein Phänomen, das Frauen aller Bevölkerungsgruppen betrifft.

Auch in unserem Beruf wird die frisch Approbierte schnell auf den Boden der Tatsachen geholt: Trotz offiziellen Verbotes gehört die Frage nach der Familienplanung zum Standardrepertoire bei Bewerbungsgesprächen. Das gut gemeinte, aber katastrophal umgesetzte Mutterschutzgesetz verbaut schwangeren Ärztinnen regelhaft Weiterbildung und Karriere.

Die weitaus unangenehmste Phase beginnt jedoch nach der Geburt: KiTa-Plätze sind in unserem Bundesland ausgesprochen teuer, existieren für Kinder unter einem Jahr nur auf dem Papier und die Betreuungszeiten ignorieren Vollzeit- und insbesondere Schichtarbeit. Eine ausgesprochen effektive Methode, um Frauen die berufliche Gleichberechtigung zu verwehren, und ein Armutszeugnis der hessischen Familienpolitik.

Die fast unausweichliche Teilzeitarbeit, meist der Mutter, stellt eine ganze Generation junger ÄrztInnen vor Probleme: Was bedeutet die Teilzeitarbeit für die heutigen Finanzen, die Rentenansprüche, die Karriere?

Das Stichwort Karriere bezeichnet an dieser Stelle nicht die Leitungsposition in der Klinik oder gar eine Niederlassung in Eigenverantwortung – die meisten betroffenen KollegInnen haben bereits Probleme, ihre Weiterbildung zu beenden. Notwendige Rotationen werden Teilzeitstellen verwehrt. Unter dem Vorwand des Feminismus und der Kollegialität werden Frauen (sic!) dazu aufgefordert, bei Erkrankung der Kinder Betreuungsalternativen vorzuhalten, und nebenbei schwingt jederzeit der Vorwurf der Arbeitsverweigerung mit.

Ich halte es an dieser Stelle für erwähnenswert, dass mich Betreuungsratschläge von Männern, deren Karrieren auf einer „klassischen“ familiären Rollenverteilung beruhen, befremden. Dass mich Gespräche, in denen ich Vorgesetzten Auskünfte über meine familiären Verhältnisse geben soll, unangenehm berühren. Dass ich nicht gerne in Teilzeit arbeite, aber leider Alternativen fehlen. Dass 90 % meines Gehaltes aus klinischer Arbeit für die Kinderbetreuungskosten aufgewendet werden müssen, was Weiterbildung für mich zu einem teuren Hobby macht.

Es ist angesichts dieser Umstände verständlich, dass viele KollegInnen resignieren und sich alternative Beschäftigungsfelder suchen. Dies ist sowohl für die medizinische Versorgung der Bevölkerung als auch die betroffenen KollegInnen persönlich sehr bedauerlich.

Es ist an der Zeit, dass politisch Verantwortliche und EntscheidungsträgerInnen in den Kliniken kritisch evaluieren, ob in der Patientenversorgung so leichtfertig auf KollegInnen mit Kindern verzichtet werden kann.

Gleichberechtigung in Deutschland kennt – leider immer noch – enge Grenzen.“

Svenja Krück, Präsidiumsmitglied der Landesärztekammer Hessen