Im Herbst vergangenen Jahres hatten wir im HÄBL 10/2020 die Daten der positiv auf SARS-CoV-2 Getesteten sowie der Hospitalisierungen und Todesfälle an oder mit Covid-19 aus Frankfurt am Main vorgestellt und die Fragen aufgeworfen,

  • ob weiterhin die Verhütung aller, auch asymptomatischer Infektionen das Ziel bleiben soll (Containment), oder
  • ob entsprechend dem nationalen Pandemieplan des Robert Koch-Instituts (RKI) [1] zunehmend die Schutzstrategie für vulnerable Gruppen (Protection) sowie die Folgenminderungsstrategie (Mitigation) in den Fokus genommen werden soll.

Wir hatten eine breite öffentliche Diskussion zu den Zielen und Mitteln der Pandemiebekämpfung gefordert – unter Berücksichtigung des Krankheitsbildes sowie ethischer (primum non nocere) und rechtlicher Fragen (Primat des mildesten Mittels) [2, 3].

Daten

Ab Oktober 2020 kam es in ganz Deutschland – auch in Frankfurt am Main – zu einer zweiten Welle. Das Maximum wurde in der 45. Kalenderwoche (KW) 2020 erreicht, danach nahmen die Meldungen bis zur 7. KW 2021 stetig ab; seit der 8. KW nehmen die Fallzahlen wieder zu (Abb. 1a). Verschiedene Bevölkerungsgruppen waren sehr unterschiedlich betroffen. Dies zeigen die sog. 7-Tages-„Inzidenzen“ in Bezug auf die unterschiedlichen Altersgruppen. In der Gesamtbevölkerung erreichte die maximale 7-Tages-Inzidenz im November knapp 300/100.000. Bei den 20–39-Jährigen und den > 80-Jährigen erreichte sie maximal über 360/100.000. In der Gesamtbevölkerung und in den Altersgruppen bis unter 80 Jahren fiel die 7-Tagesinzidenz rasch wieder ab, in der Gruppe der > 80-Jährigen blieb sie jedoch über einige Wochen bis einschließlich der ersten KW 2021 bei 250–300/100.000. Ab der KW 9 kommt es in allen Altersgruppen zu einem starken Anstieg der Meldungen – mit Ausnahme der > 80-Jährigen.

Die Hospitalisierungsrate in der Gesamtbevölkerung und in den Altersgruppen bis 60 Jahre lag in den letzten Wochen des Jahres 2020 bei bzw. unter 20/100.000, bei den 60–79-Jährigen doppelt so hoch. Bei den > 80-Jährigen lag sie über mehrere Wochen bei über 100/100.000, mit Maximalwerten von bis zu 138/100.000 in der 51. und 52. KW (Abb. 1b). In den Altersgruppen bis 60 Jahre blieb die Sterblichkeit pro Woche unter 1/100.000, bei den 60–79-Jährigen traten 13–16 Todesfälle pro Woche und 100.000 auf, bei den > 80-Jährigen waren es über mehrere Wochen zwischen ca. 50 und über 80 Todesfälle pro 100.000 und Woche; erst ab der 2. KW 2021 trat eine deutliche und stetige Abnahme der Todesfälle bei den > 80-Jährigen ein (Abb. 2c). Trotz der seit der KW 8–9 deutlich zunehmenden Meldungen ist – angesichts der positiven Entwicklung bei den > 80-Jährigen – keine Zunahme der Hospitalisierungen und der Sterblichkeit erkennbar.1

Abbildung 1 a–c: Meldungen, Hospitalisierungen und Todesfälle im Zusammenhang mit SARS-CoV-2 in Frankfurt am Main – KW 10, 2020 bis KW 13 2021. 7-Tages-„Inzidenz“ in der Gesamtbevölkerung und in verschiedenen Altersgruppen im Altersbezug. Grafiken: Gesundheitsamt Frankfurt

Abbildung 2: Meldungen, Hospitalisierungen und Todesfälle im Zusammenhang mit SARS-CoV-2 in Altenpflegeheimen in Frankfurt am Main; angegeben sind die Anzahl der Meldungen pro Woche. Grafik: Gesundheitsamt Frankfurt

Abbildung 3: Sterbefälle pro Tag in Frankfurt am Main gesamt, 2017–2020 (Daten wurden von Dr. Helmut Uphoff, HLPUG, zur Verfügung gestellt). Grafik: Gesundheitsamt Frankfurt

Diskussion

Die von uns in HÄBL 10/2020 angeregte breite öffentliche Diskussion zu den Zielen und Mitteln der Pandemiebekämpfung fand nicht statt. Weiterhin wurde und wird auf „Containment“ gesetzt und die sog. 7-Tagesinzidenz der positiv Getesteten als Kriterium für politische Entscheidungen genutzt. Und dies, obwohl dieser Parameter schon aus methodischen Gründen hierfür nicht geeignet ist [4]. Die Daten zeigen darüber hinaus, dass die sog. 7-Tages-Inzidenz in der Gesamtbevölkerung und in der Gruppe der < 60-Jährigen nur gering mit schweren Erkrankungen und konsekutivem Hospitalisierungsbedarf oder mit Todesfällen assoziiert ist. Um das Gesundheitswesen und insbesondere die Krankenhäuser nicht zu überlasten und die Sterblichkeit niedrig zu halten, muss also nicht die Infektionsrate der Gesamtbevölkerung in den Blick genommen werden, sondern die Infektionen bei Älteren und Altenpflegeheimbewohnern niedrig gehalten werden, durch besonderen Schutz „vulnerabler Gruppen“ (Protection). Die anfänglichen, den Bewohnerinnen und Bewohnern der Altenheime vorbehaltenen Impfungen können zwar als „Protection-Strategie“ für diese Gruppe gewertet werden, allerdings war diese Maßnahme insbesondere anfangs durch die geringe, zur Verfügung stehende Impfstoffmenge keineswegs ausreichend und sie wurde durch die Änderung der Impfpriorisierung weiter vermindert.

Früh wurde gewarnt, dass ein Konzept, das ausschließlich auf allgemeine Präventionsmaßnahmen (Containment) setzt ohne spezifische Präventionsansätze wie den Schutz vulnerabler Gruppen (Protection), den „Durchmarsch“ der Epidemie nur begleitet, „ohne den dringend notwendigen Schutz der verletzlichen Bevölkerungsgruppen in den Mittelpunkt zu stellen“ [5].

Die Forderung nach dem Schutz vulnerabler Gruppen wurden jedoch nicht umgesetzt und die Gruppen der > 80-Jährigen und der Altenpflegeheimbewohner waren am häufigsten und am schwersten betroffen. Die erheblichen Kontaktbeschränkungen für Altenpflegeheimbewohner haben die vielen schweren Infektionen und Todesfälle nicht verhindern können. Erst ab dem Jahreswechsel waren ausreichend Tests und Testpersonal für Altenpflegeheimbewohner (und Mitarbeitende) verfügbar. Ab der letzten Dezemberwoche wurde dann die Impfkampagne in den Altenpflegeheimen gestartet – und ab Mitte Januar auch für die Gruppe der > 80-Jährigen. In der Folge nahmen Erkrankungen, Hospitalisierungen und Todesfälle in diesen vulnerablen Gruppen deutlich ab.

Auch die Kontaktbeschränkungen für die Allgemeinheit, der Lockdown einschließlich der Schließung von Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen konn­ten das Infektionsrisiko für die Alten und die Altenpflegeheimbewohner nicht ausreichend senken. Durch die fortgesetzte Containment-Strategie wurden erhebliche personelle Ressourcen im Meldewesen und der Kontaktnachverfolgung sowie umfangreiche Testkapazitäten für Schulen und Kitas eingesetzt, die in den Altenpflegeheimen und bei den alten Menschen gewinnbringender hätten genutzt werden können. Viele alte Menschen und Altenpflegeheimbewohner erkrankten schwer an Covid-19 und verstarben. Studien zeigen, dass zusätzlich demenzielle Erkrankungen an Schwere zugenommen haben und die körperliche Beweglichkeit angesichts massiv eingeschränkter Möglichkeiten, weniger aktivierender Pflege und Physiotherapie deutlich abgenommen haben. Darüber hinaus leiden viele Altenpflegeheimbewohner angesichts der weiterhin bestehenden Kontaktbeschränkungen unter Depression und Perspektivlosigkeit [6, 7].

Wichtig bleibt, dass Alte und Vorerkrankte gemäß STIKO-Empfehlung prioritär geimpft werden, damit die Kontaktbeschränkungen aufgehoben und ihnen wieder Lebensqualität zurückgegeben werden kann. Solange hierfür noch nicht ausreichend Impfstoff vorhanden ist, erscheint die Höherstufung der Priorisierung von z. B. Lehrern und Erziehern problematisch [8]. Weder Kinder noch Lehrer oder Erzieher stellen eine vulnerable Gruppe dar. Und entgegen vieler Behauptungen sind Kinder nicht die Treiber dieser Pandemie [9–13].

Durch den Verzicht auf Protection haben wir als Gesellschaft beim Schutz der vulnerablen Gruppen der Alten und der Altenpflegeheimbewohner vor SARS-CoV-2 versagt und darüber hinaus erhebliche Kollateralschäden bei ihnen verursacht. Zunehmend werden auch die Kollateralschäden bei Kindern erkennbar, denen weiterhin – ohne fachliche Grundlage – die Entwicklungschancen durch einen Präsenz-Schul- und -Kitabetrieb vorenthalten wird. Aus fachlichen, rechtlichen und ethischen Aspekten müssen die Kindergemeinschaftseinrichtungen wieder geöffnet werden – unter Einhaltung der AHA L-Regeln, siehe. auch [14–20].

Limitationen: Die Meldedaten und damit auch die sog. 7-Tages-„Inzidenz“ sind abhängig von der jeweiligen Teststrategie und der Anzahl der Testungen. Die hier vorgestellten Daten beschreiben die Situation bis Ende März 2021. Derzeit breitet sich die Variante B 1.1.7 weiter aus.

Aktuelle Publikationen zeigen bei der Variante B 1.1.7 eine leichtere Übertragbarkeit, die Erkrankungsschwere und die Todesfallrate unterscheiden sich aber nicht von der Wildvirus-Variante [21, 22].

Die zunehmenden Fallzahlen auf den Intensivstationen sind besorgniserregend. Vor diesem Hintergrund ist ein rasches Impfen und die bei allen Virusvarianten – auch bei der Variante B 1.1.7 effektiven AHA L-Regeln weiterhin unabdingbar.

Prof. Dr. med. Ursel Heudorf, ehem. Leiterin Gesundheitsamt Frankfurt am Main

Prof. Dr. Dr. med. René Gottschalk, Leiter Gesundheitsamt Frankfurt am Main

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