Kann man über Videosprechstunde schreiben, ohne zu betonen, dass die reale Begegnung der Goldstandard in der Psychotherapie ist? Nein, denn die reale Begegnung zweier Menschen spricht viele Sinne an und lässt ein „ganzheitliches“, unmittelbares Erleben stärker zu.

In der Videosprechstunde findet eine Übermittlung über ein Medium statt. Der Einfluss der Technik auf die Wahrnehmung, das Verstehen und Erfassen von Situation und Atmosphäre ist ein nicht zu vernachlässigender dritter Faktor, der vor allem bei technischen Störungen spürbar wird. Bereits vor der Covid-19-Pandemie wurden die rechtlichen und technischen Voraussetzungen für die Ausübung der Heilkunde als Fernbehandlung und damit auch in der Psychotherapie geschaffen.

Vonseiten der Behandler war das Interesse zunächst eher gering; zu aufwendig und unsicher erschien die Arbeit damit mit zu wenigen Vorteilen für die Patienten.

„Explosionsartige“ Nutzung erst durch die Pandemie

Erst mit Beginn der Covid-19-Pandemie kam es zu einer verstärkten Nachfrage von Patienten auf der einen und Ärzten und Psychotherapeuten auf der anderen Seite. Leere Praxen, Hygieneregeln, erhöhter Beratungs- und Behandlungsbedarf von Patienten sowie kostenlose Angebote von den Providern der Sprechstunde führten zu einer explosionsartigen Nutzung der Videosprechstunde insbesondere bei den Psychotherapeuten. Inzwischen hat eine große Anzahl von Patienten, Ärzten und Psychotherapeuten Erfahrungen mit der Videosprechstunde gemacht.

Dies kann sowohl zu einer Annäherung an eine technikgestützte Arbeitsweise als auch zu einer Ablehnung von „noch mehr Video“ (Stichwort „Zoom-Fatigue“) führen. Sicher spielt es auch eine wichtige Rolle, dass die Nutzung der Videosprechstunde zum jetzigen Zeitpunkt eher aus der Not geboren war, weil ein direkter Kontakt entweder zu gefährlich erschien oder die Einschränkungen durch Hygieneregeln und Maskenpflicht in den Praxen noch weniger gern in Kauf genommen wurden.

Zu bedenken ist auch, dass wir – ob mit oder ohne Videosprechstunde – momentan nicht in einer normalen Zeit leben, in der wir uns bedenkenlos die Hand reichen und uns gerne in körperlicher Nähe von vielen anderen Menschen befinden. Die Videosprechstunde kann daher je nach Empfinden das kleinere Übel sein. Wir Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten kommen nicht umhin, den Einfluss der Pandemie-Bedingungen auf die therapeutische Beziehung und das Setting fortwährend zu reflektieren und auch mit den Patienten zu thematisieren.

Dabei müssen wir neue Wege beschreiten, mit Unsicherheit umgehen und doch auch immer wieder einen sicheren Raum schaffen, in dem der therapeutische Prozess weitergehen kann.

Radikaler Settingswechsel

Viele Kolleginnen und Kollegen haben die Erfahrung gemacht, dass gerade in so unsicheren Zeiten der kollegiale Austausch in Intervisionen, Qualitätszirkeln und Balintgruppen etc. und auch in der Supervision besonders hilfreich ist. Auch diese Begegnungen fanden vermehrt im virtuellen Raum statt. Die Auswirkungen und Einflussmaßnahmen auf den Gruppenprozess sind anders und komplizierter als im Zweier-Setting – schon allein die zentrale Aufgabe, der Hüter des sicheren Raumes zu sein, benötigt viel mehr direktive Vorgaben und der Gruppenleiter hat dies viel weniger unter Kontrolle.

Die Verwendung der Videosprechstunde stellt außerdem einen radikalen Settingswechsel dar. Kommen normalerweise die Patienten zu uns in die Praxis, in unsere Räume, müssen sie sich auf den Weg machen, so schauen wir jetzt in deren Raum, deren Wohnzimmer, oft auch Schlafzimmer (weil dort der Computer steht), Büro oder sogar Auto.

Wir sitzen wie gewohnt in unserem Praxisraum, wahrscheinlich können uns die Patientinnen und Patienten so ähnlich sehen wie sonst. Sie können aber nur unser Gesicht sehen, können sich kaum umsehen im Raum. Die Begegnung findet in einem imaginären/virtuellen Raum statt, der von Patienten und ihren Therapeuten mit Bedeutung belegt und gestaltet wird. Im Laufe der Zeit wird der Umgang mit dem Medium entspannter. Häufig wird auch die Möglichkeit entdeckt, das eigene Videobild wegzuschalten.

Wir sind darauf angewiesen, dass die Patienten die notwendigen Vorkehrungen für einen reibungslosen Verlauf getroffen haben und eine stabile Internetverbindung vorhanden ist. Auch die Art und Intensität, in der Patienten dafür sorgen, dass wir uns gegenseitig gut sehen und hören können, gibt Aufschluss und kann in der therapeutischen Arbeit genutzt werden.

Kinder und Jugendliche: Eltern sind jetzt stärker involviert

Bei Kindern und Jugendlichen ist das von besonderer Bedeutung, hier sind die Eltern mehr involviert als sonst in der Praxis, in der Therapeuten die Tür schließen können und die Eltern dann draußen bleiben müssen.

Es könnte eine große Chance sein, dass jetzt so viele Behandler und Patienten mit der Videosprechstunde Erfahrungen gemacht haben. Denn dadurch wurden Reflexions- sowie Adaptationsprozesse angestoßen. Multiple Erfahrungen mit begleitender Reflexion machen sicherer im Umgang mit dem neuen Medium.

Auch nach der Pandemie werden Patientengruppen und Umstände bleiben, die die Videosprechstunde indiziert sein lassen wie längere berufliche oder studienbedingte Abwesenheit, Mobilitätseinschränkungen durch Krankheit oder auch Zustände stark geschwächter Immunabwehr wie bei Chemotherapie-Patienten. Die Videosprechstunde kann dazu führen, dass Psychotherapie als niedrigschwelliger wahrgenommen wird. Das kann ein Vorteil sein, aber auch ein Nachteil. Unter Umständen kann durch den leichteren Zugang der Eindruck von größerer Beliebigkeit entstehen.

Ob nun eine therapeutische Begegnung gehaltvoll, konstruktiv und gewinnbringend für die Patienten verlaufen wird, ist in der Videobegegnung genau wie in realen Begegnung von vielen Faktoren abhängig. Der Modus (real oder virtuell) ist nur ein Faktor. Dieser braucht aber – gerade weil er neu ist – eine besondere kritische Betrachtung und Reflexion sowie einen Prozess des Sich-Vertraut-Machens mit neuen Formen des Ausdrucks und Umgangs. Auch ist es wichtig, den Einfluss des neues Mediums mit den Patienten gemeinsam zu besprechen und zu bearbeiten.

In der momentanen Lage ist es auch bedeutsam, dass Patienten und Ärzte/Psychotherapeuten die Videosprechstunde nicht ganz aus freien Stücken gewählt haben, so dass auch die Bearbeitung des Einflusses der äußeren Umstände auf die Gestaltung des Therapiesettings nicht unerheblich ist. Dabei spielt es auch eine wichtige Rolle, wie viele Vorgaben die Therapeutin oder der Therapeut machen bzw. welche Angebote und wie groß die Wahlmöglichkeit der Patienten momentan ist. Wie wirkt es sich auf die therapeutische Beziehung aus, wenn Therapeuten auf einmal Regeln aufstellen, die zu Therapiebeginn noch nicht existierten? Gelingt es, dies zu besprechen – oder entwickeln sich in manchen Fällen auch unüberbrückbare Gräben zwischen den Positionen, so wie wir alle es im Moment auch in der öffentlichen Diskussion und im privaten und professionellen Miteinander erleben?

Neue Medien sind auch das, was man daraus macht, und es lohnt sich eine möglichst unaufgeregte und reflektierte Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten, aber auch den Begrenzungen der Anwendung von Videosprechstunde in der Psychotherapie.

Doris Salmen, Ärztliche Psychotherapeutin, Psychoonkologin, Balintgruppenleiterin, Frankfurt am Main, E-Mail: doris.salmen@psycho-therapie-praxis.de