Dr. med. Mareike Aichholzer, Prof. Dr. med. Andreas Reif, Dr. med. Christine Reif-Leonhard

Mit diesem Heft starten wir mit einer losen Serie zum Thema Depression. Beginnend mit Diagnostik und Therapie werden in weiteren Beiträgen u. a. die Depressionsbehandlung in verschiedenen Behandlungssettings, interdisziplinäre Zusammenarbeit und Suizidalität thematisiert.

Übersicht – Epidemiologie und Bedeutung depressiver Erkrankungen

Depressionen sind eine heterogene Erkrankungsgruppe und wesentlicher Faktor im Gesundheitswesen. In Deutschland leiden circa 5,3 Millionen Erwachsene im Alter von 18 bis 79 Jahren innerhalb eines Jahres an einer behandlungsbedürftigen Depression. Die Lebenszeitprävalenz beträgt zwischen 16 und 20%. Frauen sind dabei etwa zwei bis drei Mal häufiger betroffen als Männer [1]. Die Betroffenen sind zum Zeitpunkt der Ersterkrankung im Mittel zwischen 25 und 30 Jahre alt; in der dritten Lebensdekade zeigt sich die höchste Prävalenz depressiver Störungen. Laut der Global Burden of Disease Study der Weltgesundheitsorganisation sind Depressionen weltweit die hauptsächliche Ursache für krankheitsbedingte Beeinträchtigungen des Lebens [2]. Hauptsymptome einer Depression sind niedergedrückte Stimmung, Freud- und Interessenslosigkeit sowie verminderter Antrieb über mindestens zwei Wochen. Nebensymptome sind unter anderem verminderte Konzentrations- und Aufmerksamkeitsfähigkeit, Schlafstörungen, vermindertes Selbstwertgefühl und Schuldgefühle. Zusätzlich können stimmungskongruente psychotische Symptome, wie Verarmungs-, Schuld-, nihilistischer und hypochondrischer Wahn, hinzukommen. Im Rahmen einer Depression kommt es häufig zu Suizidgedanken, dementsprechend stellen Depressionen die häufigste Ursache für Suizide dar. Der Krankheitsverlauf ist meist phasisch, bei ca. 10–15 % der Betroffenen kommt es jedoch zu einer Chronifizierung. Bleiben die Betroffenen nach der ersten depressiven Episode beschwerdefrei, was bei ca. einem Drittel der Betroffenen der Fall ist, handelt es sich per definitionem um eine einzelne depressive Episode. Kommt es zu mindestens einer weiteren depressiven Episode, handelt es sich um eine rezidivierende depressive Störung. Depressionen werden nach ICD-11 je nach Zahl und Ausprägung der Symptome, vor allem aber je nach Funktionsniveau, in drei Schweregrade (leicht, moderat, schwer) eingeteilt. Angepasst an den Schweregrad erfolgt die leitliniengemäße Therapie der Depression. Dabei kommen psychotherapeutische (v. a. kognitive Verhaltenstherapie) und pharmakotherapeutische Verfahren zum Einsatz. Bei schweren Episoden werden beide kombiniert. Zudem kann dieses multimodale Therapiekonzept im Falle einer Therapieresistenz im stationären Rahmen um andere biologische Therapien, wie z. B. die Elektrokonvulsionstherapie, ergänzt werden. Differenzialdiagnostisch muss bei dem Auftreten depressiver Symptome auch an eine bipolare Störung, andere psychische Erkrankungen sowie somatische oder pharmakogene Gründe gedacht werden.

Diagnostik

Diagnosekriterien nach ICD-11

Da voraussichtlich zum 01.01.2022 die ICD-11 eingeführt werden wird, werden im Folgenden bereits deren diagnostische Kriterien dargestellt, die sich allerdings nicht grundsätzlich von ICD-10 unterscheiden. Gemäß ICD-11 liegt eine einzelne depressive Episode vor, wenn die in Tabelle 1 aufgeführten Hauptsymptome über einen Zeitraum von mindestens zwei Wochen bestehen. Zusätzlich können eine Reihe an Nebensymptomen (ebenfalls in Tabelle 1) vorliegen. Ab der zweiten depressiven Episode besteht nach ICD-11 eine rezidivierende depressive Störung. Bei einer leichten Episode ist keines der Symptome stark ausgeprägt; bei der moderaten Episode sind einige Symptome ausgeprägt oder viele Symptome in geringer Intensität vorhanden; die Patienten sind noch in der Lage, zumindest in einigen Bereichen zurechtzukommen. Bei der schweren depressiven Episode sind die meisten Symptome in einem ausgeprägten Maß vorhanden, das Funktionsniveau der Patienten ist stark reduziert, so dass ein normales berufliches oder soziales Leben nicht mehr aufrechterhalten werden kann.

Tab. 1 : Haupt- und Nebensymptome einer depressiven Episode gemäß ICD-11.

Hauptsymptome

Nebensymptome

Fast täglich gedrückte Stimmung

Antriebsminderung

Antriebssteigerung

Konzentrationsschwierigkeiten

Vermindertes Selbstwertgefühl/Selbstvertrauen

Interessenlosigkeit

Gefühle der Wertlosigkeit/unangemessener Schuld

Hoffnungslosigkeit

Negative Zukunftsperspektiven

Gedanken an den Tod oder Suizid

Veränderungen in Appetit/Schlaf/Libido

Psychomotorische Agitation

Psychomotorische Verlangsamung

Verminderte Energie/Müdigkeit

Diagnostisches Vorgehen

Die Diagnosestellung erfolgt primär klinisch anhand der oben genannten Haupt- und Nebensymptome. Screening-Fragebögen wie der PHQ-9 können insbesondere in der primärärztlichen Versorgung zum Einsatz kommen; bei positivem Screening sollte sich jedoch auf jeden Fall eine klinische Diagnostik anschließen. Die Betroffenen berichten oft nicht spontan von den typischen Symptomen einer Depression, eine aktive, ausführliche Exploration einer depressiven Symptomatik und eine gründliche, strukturierte Anamneseerhebung sind daher unerlässlich. Hinweise auf eine depressive Episode können z. B. auch eine allgemeine körperliche Abgeschlagenheit, Gedächtnisstörungen, Veränderungen des Appetits, diffuse körperliche Probleme (z. B. des Kreislaufs, der Atmung und des Magen-Darm-Systems) sein. Hilfreich ist außerdem immer das Einholen einer Fremdanamnese.

Vor der Diagnosestellung müssen sorgfältig mögliche pharmakogene, somatische bzw. hirnorganische Ursachen ausgeschlossen werden. Depressionen gehen jedoch auch oft mit somatischen Komorbiditäten, wie z. B. metabolischen oder hormonellen Erkrankungen, einher. Somatische Beschwerden müssen daher ernst genommen und sorgfältig abgeklärt werden. Es ist in allen Szenarien sicherzustellen, dass sich die Patienten ernst genommen fühlen und die Beschwerden nicht als ‚nur psychisch‘ abgetan werden.

Eine körperliche Untersuchung ist immer zu empfehlen. Dabei ist auf Hinweise auf neurologische (z. B. M. Parkinson, Multiple Sklerose), metabolische, endokrinologische (z. B. Hypo-/Hyperthyreose) und rheumatologische Erkrankungen zu achten.

Ebenso sollte eine Basis-Laboruntersuchung zum Ausschluss somatischer Ursachen bzw. Komorbiditäten erfolgen. Die einzelnen empfohlenen Parameter zur Basisdiagnostik bei einer ersten depressiven Episode, bei Verdacht auf eine dro-geninduzierte Symptomatik, bei Frauen im gebärfähigen Alter und zum Ausschluss metabolischer Auffälligkeiten, die auch unter der psychopharmakologischen Therapie auftreten können und die deshalb im Zuge der Pharmakovigilanz untersucht werden sollten, sind in Tabelle 2 einzusehen.

Tab. 2: Empfohlene laborchemische Untersuchungen zum Ausschluss somatischer Ursachen und während laufender medikamentös- antidepressiver Therapie

Indikation

Laborparameter

Basisdiagnostik bei einer depressiven Episode

Elektrolyte

GOT, GPT, γGT

Kreatinin, Harnstoff, Harnsäure, eGFR

Alkalische Phosphatase, Bilirubin

Lipase, Amylase, LDH

CRP, CK

Gesamtprotein, Albumin

Eisen, Ferritin

Gerinnungsstatus

Großes Blutbild

TSH

Verdacht auf eine drogeninduzierte Symptomatik

Drogenscreening im Urin

Monitoring metabolischer Auffälligkeiten, Blutentnahme nüchtern

Glukose

LDL, HDL, LDL/HDL-Quotient

Triglyceride

Gesamtcholesterin

Frauen im gebärfähigen Alter

Schwangerschaftstest

Eine bildgebende Diagnostik (cMRT) ist zur hirnorganischen Ausschlussdiagnostik bei der Erstmanifestation einer schweren Depression sowie bei ungewöhnlichem Verlauf, sehr raschem Beginn (innerhalb weniger Tage), im höherem Patientenalter und bei neurologischen Symptomen zu empfehlen.

Ein EKG ist vor der Aufnahme einer pharmakologischen Behandlung zum Ausschluss von Herzrhythmusstörungen und einer Verlängerung der insbesondere der frequenzabhängigen QTc-Zeit indiziert und sollte unter einer antidepressiven Medikation in regelmäßigen Abständen erfolgen.

Stellenwert somatischer Komorbiditäten

Menschen mit einer schweren psychiatrischen Erkrankung (‚severe mental illness – SMI´), zu denen neben Psychosen und bipolaren Störungen auch die Depression zählt, haben im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung weltweit eine reduzierte Lebenserwartung [3]. In Deutschland beträgt der geschätzte Lebenszeitverlust bei Patienten mit einer schweren unipolaren Depression abhängig vom Alter zwischen 2,8 und 4,2 Jahre [4]. Die verminderte Lebenserwartung ist vor allem auf somatische Erkrankungen der Patienten zurückzuführen, so besteht z. B. ein erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre, metabolische und pneumologische Erkrankungen [3]. Kardiovaskuläre Erkrankungen stellen dabei die häufigste Todesursache bei Patienten mit einer schweren psychiatrischen Erkrankung dar [3]. Die somatischen Erkrankungen sind zu einem gewissen Teil auf den Lebensstil der Patienten und die Nebenwirkungen der psychopharmakologischen Therapie zurückzuführen. Dies ist jedoch nur eine Seite der Medaille; die andere Seite ist jedoch, dass psychiatrische Patienten aufgrund ihrer psychiatrischen Erkrankung, teilweise auch von medizinischem Personal, stigmatisiert werden, so dass der Zugang zur somatischen Regelversorgung erschwert wird und sie somit keine leitliniengerechte somatische Diagnostik bzw. Therapie erhalten. Es ist daher essenziell, dass die Betroffenen regelmäßig hinsichtlich der somatischen Risikofaktoren gescreent werden und entsprechende Untersuchungen (siehe auch Tabelle 2) erfolgen. Nur so kann langfristig eine Verlängerung der Lebenserwartung erreicht werden.

Suizidalität

Bei depressiven Patienten ist das Risiko eines Suizids im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung ca. 30-fach erhöht [5]. Bis zu 15 % aller Patienten mit schwerer depressiver Episode verstarben durch Suizid, über 70 % entwickeln Suizidgedanken i. R. der Episode. Es ist daher unerlässlich, das Thema Suizidalität offen und empathisch bei den Betroffenen anzusprechen (idealerweise am Ende der Exploration, wenn eine gewisse Vertrauensgrundlage gelegt ist) und zu erfragen, ob Suizidgedanken bestehen, ob früher bereits Suizidversuche stattgefunden haben, ob konkrete Ausgestaltungsideen oder Pläne bestehen und ob es Gründe gibt, die den-/diejenigen von der Ausführung des Suizids abhalten. Durch das offene Ansprechen und Thematisieren der Suizidalität erhöht sich das Risiko, dass Patienten einen Suizid begehen, entgegen mancher Vorurteile nicht. Vielmehr kann durch das aktive Ansprechen eine Risikoabwägung stattfinden und ggf. sogar ein Suizid verhindert werden. Sollten sich die Patienten nicht klar und glaubhaft von akuter Suizidalität distanzieren können oder besteht der Eindruck, dass die Patienten diesbezüglich keine klaren Absprachen treffen können, besteht die Indikation zu einer notfälligen Vorstellung in der zuständigen psychiatrischen Klinik; in diesem Fall kann die sektorversorgende Klinik auf jeden Fall in die Pflicht genommen werden. Bei Vorliegen einer akuten Eigengefährdung erfolgt eine Einweisung bei akuter Eigengefahr ggf. auch gegen den Willen der Erkrankten in Begleitung des Rettungsdienstes und der Polizei.

Abgrenzung zur bipolaren Störung

Eine wichtige Differenzialdiagnose der unipolaren Depression stellt die depressive Episode im Rahmen einer bipolaren Störung dar. Mindestens die Hälfte aller bipolaren Störungen manifestieren sich primär mit einer depressiven Episode, sogenannte ‚hidden bipolars‘. Meist sind jedoch schon in einer frühen Phase der Erkrankung Symptome des manischen Pols durch eine detaillierte Exploration feststellbar. Zu diesen Symptomen zählen z. B. Phasen mit gesteigertem Antrieb oder auch Phasen mit hypomaner Stimmung. Besonders hilfreich können in diesem Zusammenhang Angehörige sein, da die Betroffenen häufig selbst diese Phasen nicht als pathologisch wahrnehmen. Eine Differenzierung zwischen einer unipolaren und einer bipolaren Depression ist zur Sicherstellung einer adäquaten Therapie, z. B. mit Medikamenten zur Stimmungsstabilisierung, und damit auch einer Verhinderung von ausgeprägten manischen Phasen wichtig. Bipolar affektive Störungen erfordern in aller Regel zwingend eine psychopharmakologische, stimmungsstabilisierende Medikation und bedürfen damit einer anderen Behandlung als die unipolare Depression. Im Zweifelsfall ist hier eine fachärztliche Vorstellung anzustreben.

Therapie

Die nachfolgenden Empfehlungen orientieren sich an der nationalen Versorgungsleitlinie (NVL, S3-Leilinien) „Unipolare Depressio“‘ von 2015, die sich aktuell in Überarbeitung befindet und voraussichtlich Anfang 2022 neu aufgelegt wird. Die Therapie der Depression setzt sich aus mehreren Bausteinen zusammen und orientiert sich am Schweregrad der Symptomatik, an der Präferenz der Erkrankten und am aktuellen Stadium der Erkrankung, woraus sich die Akuttherapie (Ziel: vollständige Remission), die Erhaltungstherapie (Ziel: Verhinderung eines erneuten Rückfalls während der aktuellen Krankheitsepisode) und die Rezidivprophylaxe (Ziel: Vermeidung einer neuen depressiven Episode) ergibt (s. Abb. 1). In allen Krankheitsphasen nehmen die Psychoedukation über die Erkrankung (Symptomatik, Verlauf, Behandlung, Entstehung, Risikofaktoren), die partizipative Entscheidungsfindung zusammen mit den Patienten und das Einbeziehen von Angehörigen einen großen Stellenwert ein. Zudem sollten depressive Patienten und Angehörige über Selbsthilfe- und Angehörigengruppen informiert werden.

Bei einer leichtgradigen depressiven Episode ist zunächst fürsorgliches Abwarten – auch „watchful waiting“ – genannt empfehlenswert. Von einer depressionsspezifischen Behandlung kann in diesem Zusammenhang zunächst abgesehen werden. Nach ca. zwei Wochen findet eine erneute Beurteilung der Symptomatik statt. Im Falle von anhaltender oder sogar zunehmender Symptomatik und im Falle einer Persistenz oder Verschlechterung ist entweder eine psychotherapeutische oder pharmakotherapeutische Behandlung empfohlen. Welche Therapiemethode zum Einsatz kommt, sollte in einem Prozess der partizipativen Entscheidungsfindung zusammen mit den Patienten unter Berücksichtigung des individuellen Nutzen-Risiko-Profils, der Patientenpräferenz, früherer Erfahrungen und weichen Faktoren wie Wartezeiten etc. entschieden werden. Wenn es sich um eine schwere depressive Episode handelt, wird eine Kombination aus beiden Verfahren empfohlen.

Pharmakotherapie

Es stehen zahlreiche Antidepressiva aus verschiedenen Substanzklassen zur Verfügung, u. a. selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Inhibitoren (SSRI), duale Wiederaufnahmehemmer wie Venlafaxin und trizyklische Antidepressiva (TZA) wie Ami-triptylin. Alle zugelassenen Antidepressiva zeichnen sich durch eine vergleichbare Wirkung aus. Sie unterscheiden sich jedoch hinsichtlich der Nebenwirkungen und Interaktionen mit anderen Medikamenten. Üblich ist der Beginn mit einem SSRI, wie z. B. Sertralin (Anfangsdosis 50 mg morgens, Erhöhung der Dosis bei guter Verträglichkeit auf 100 bis zu 200 mg/die).

Die Dosis sollte schrittweise erhöht werden. Eine fundierte Beurteilung der Wirksamkeit kann aufgrund der Wirklatenz erst ca. vier Wochen nach Erreichen der Standarddosis erfolgen. Bleibt eine Besserung der Symptomatik aus, sollte eine Serumspiegelkontrolle des Wirkstoffes erfolgen (Therapeutisches Drug Monitoring/TDM), ggf. die Dosis angepasst werden oder bei einem Serumspiegel im therapeutischen Bereich mit einem Antipsychotikum der 2. Generation – z. B. Quetiapin – oder Lithium augmentiert oder die Substanzklasse gewechselt werden. Zur Entaktualisierung kann v. a. im stationären Rahmen zusätzlich die Gabe von Benzodiazepinen erfolgen. Dies ist besonders bei akuter Suizidalität oder ausgeprägten psychotischen Symptomen hilfreich. Benzodiazepine haben selbst keine antidepressive, lediglich sedierende und angstlösende Wirkung. Die alleinige Behandlung der depressiven Symptomatik mit Benzodiazepinen stellt insofern einen ärztlichen Kunstfehler dar. Die Therapie mit Benzodiazepinen im stationären Rahmen wird so kurz wie möglich gehalten, um eine iatrogen induzierte Benzodiazepin-Abhängigkeit zu vermeiden. Das Verschreiben von Benzodiazepinen im ambulanten Rahmen ist aufgrund des hohen Abhängigkeitspotenzials nur beschränkt empfehlenswert und sollte nur von Beginn an zeitlich begrenzt, unter Prüfung von Kontraindikationen und unter engem Monitoring erfolgen. Bei Schlafstörungen kann der sedierende Effekt von augmentativ eingesetztem Quetiapin genutzt werden, ebenso ist die Gabe von antihistaminergen Substanzen wie Prothipendyl oder schlafanstoßend wirkenden Antidepressiva in geringer Dosis (z. B. Mirtazapin, Doxepin, Amitriptylin ret.) möglich.

Während der Erhaltungstherapie wird das Antidepressivum in gleichbleibender Dosis über 6–12 Monate nach Erreichen der Remission fortgeführt. Eine rezidivprophylaktische Behandlung sollte bei Patienten mit mindestens zwei schweren depressiven Episoden für mindestens zwei Jahre fortgeführt werden.

Im Sinne der Pharmakovigilanz sollten während der Therapie mit Antidepressiva regelmäßig folgende Parameter bestimmt werden: Leberwerte, Nierenwerte, klinische Chemie, Blutbild (siehe Tabelle 2), EKG, Gewicht. Auch sollte auf Interaktionen mit dem CYP-System im Zusammenhang mit anderen Medikamenten geachtet werden. Hierzu ist therapeutisches Drug Monitoring (Bestimmung der Serumspiegel des Wirkstoffes) zu empfehlen, v. a. bei Antidepressiva mit geringer therapeutischer Breite wie z. B. TZA.

Psychotherapie

Eine psychotherapeutische Behandlung wird bei einer moderaten oder schweren depressiven Episode empfohlen, bei letzterer in Kombination mit medikamentöser Therapie. Dabei können verschiedene Verfahren zum Einsatz kommen. Im ambulanten Rahmen werden von den Krankenkassen die Kosten für eine Verhaltenstherapie, eine tiefenpsychologisch fundierte/analytische Psychotherapie und Systemische Therapie übernommen. Von allen Verfahren hat die Verhaltenstherapie mit Abstand die beste Evidenz in der Behandlung depressiver Erkrankungen. Ein balancierter, direkter Vergleich der psychotherapeutischen und psychopharmakologischen Wirksamkeit ist aufgrund der unterschiedlichen Methodik der vorliegenden Studien schwierig. Medikamentenstudien sind meist randomisiert, doppelt verblindet und placebokontrolliert. Dies wird bei psychotherapeutischen Studien häufig nicht angewandt, insbesondere erfolgt gerade bei älteren Studien nur ein Vergleich gegen Wartelisten und es liegt keine Verblindung vor. Eine pragmatische Empfehlung ist: Je schwerer eine depressive Episode ist, desto früher sollte eine medikamentöse Therapie zum Einsatz kommen, zu der dann je nach Verfügbarkeit und Krankheitszustand des Patienten eine Psychotherapie hinzugefügt werden sollte. Der Goldstandard für die Therapie einer schweren depressiven Episode ist zweifelsfrei eine Kombination von Pharmako- und Psychotherapie.

Abb. 1: „Kupfer-Schema“ des Behandlungsverlaufs einer depressiven Episode. Der Therapieverlauf setzt sich aus drei Phasen zusammen. Während der Akuttherapie (rot) ist das Ziel die Remission der Symptomatik. Diese setzt mit einer Behandlung in der Regel rascher ein als der angenommene naturalistische Krankheitsverlauf ohne Therapie (lila gestrichelte Linie). Mit der anschließenden Erhaltungstherapie (gelb) soll ein Rückfall (rot gestrichelte Linie) verhindert werden. Hält die Remission an folgt die Phase der Rezidivprophylaxe (grün). Tritt in dieser Phase erneut eine depressive Symptomatik auf (rot gepunktete Linie), handelt es sich per definitionem um eine rezidivierende depressive Erkrankung. Erstellt mit Biorender.com.

Ausblick

Aktuell sind sowohl in Diagnostik, Therapie als auch Versorgung depressiver Erkrankungen Innovationen zu erwarten. Im Hinblick auf die Diagnose von Depressionen wird wahrscheinlich die Heterogenität der Krankheitsgruppe zusehends aufgelöst werden; die Entwicklung von Biomarkern wird diese Subtypisierung begleiten und in den kommenden Jahren zunehmend den Weg in die Routineversorgung finden. 2020 wurde mit Esketamin intranasal der erste grundlegend neue pharmakologische Wirkmechanismus in der Depressionsbehandlung durch die EMA zugelassen, und derzeit sind weitere vielversprechende Verfahren in fortgeschrittener klinischer Prüfung. Neurostimulatorische Therapieverfahren – invasive wie nichtinvasive – werden ebenso weiterentwickelt und zunehmend routinemäßig eingesetzt, und Psychotherapiestudien der neuen Generation erlauben zusehend besser eine Einschätzung von Therapieeffekten im Sinne der evidenzbasierten Medizin. Eine weitere Verbesserung der Behandlung insbesondere leichter und moderater depressiver Episoden ist durch den zunehmenden Einsatz telemedizinischer Methoden und digitaler Gesundheitsanwendungen (DiGAs) zu erwarten, und die Implementation des Disease Management Programms „Unipolare Depression“, die dieses Jahr erfolgen wird, dürfte ebenfalls die Versorgung depressiv erkrankter Menschen durch stärkere Einbeziehung des allgemeinärztlichen Kontexts verbessern.

Die Behandlung von an Depressionen leidenden Patienten ist und bleibt also eine interdisziplinäre, multimodale Herausforderung. Vor allem aber ist sie aufgrund der Nähe zum Menschen und des sehr guten Erfolges einer korrekt durchgeführten Therapie eine der befriedigendsten ärztlichen Tätigkeiten: „Es gibt wenige eindrücklichere Erlebnisse als einen Patienten, der in der akuten schweren Episode antriebsgehemmt und zutiefst verzweifelt erschien, nach Remission wieder gesund am normalen Leben teilhaben zu sehen. Dieses Erlebnis motiviert immer wieder aufs Neue, Depressionen mit dem gesamten Arsenal des psychiatrisch-psychotherapeutischen Instrumentariums zu behandeln.

Dr. med. Mareike Aichholzer, Prof. Dr. med. Andreas Reif, Dr. med. Christine Reif-Leonhard, Klinik für Psychiatrie, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universitätsklinikum Frankfurt – Goethe Universität, Frankfurt am Main

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