Die Behandlung der chronischen koronaren Herzkrankheit (KHK) stellt eine komplexe Herausforderung dar. In einem aktuellen Beitrag im Hessischen Ärzteblatt geben Voigtländer und Kollegen [1] einen guten, aber sehr selektiven Überblick über einige wesentliche Inhalte der aktuellen Leitlinie der European Society of Cardiology (ESC) zum chronischen Koronarsyndrom [2]. Auf eine ganzheitliche und patientenzentrierte Behandlung einschließlich der mittlerweile gut etablierten Rolle psychosozialer Faktoren in Entstehung, Verlauf und Behandlung der KHK wird im Beitrag allerdings nicht eingegangen. So wird ein unvollständiges Bild leitliniengerechter Behandlung von Koronarpatient*innen gezeichnet.

Nachfolgend sollen daher einige ergänzende Hinweise auf dem Stand aktueller Leitlinien und Positionspapiere gegeben werden.

Neben der im genannten Beitrag referierten europäischen Leitlinie zur Behandlung chronischer Koronarsyndrome sind hier u.a. die Nationale Versorgungsleitlinie (NVL) chronische KHK [3], die Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses zum Disease Management-Programm (DMP) KHK [4], die S3-Leitlinie zur kardiologischen Rehabilitation [5] sowie Positionspapiere der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie [6] und der American Heart Association (AHA) ausschlaggebend. Das aktuelle AHA-Positionspapier aus dem März dieses Jahres [7] stellt beispielsweise fest, dass

  • einfache Screening-Maßnahmen von Gesundheitsdienstleistern bei Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen eingesetzt werden können, um den psychischen Gesundheitszustand zu beurteilen,
  • Interventionen zur Verbesserung der psychischen Gesundheit einen positiven Einfluss auf die kardiovaskuläre Gesundheit haben können und somit
  • die Berücksichtigung der psychischen Gesundheit bei der Beurteilung und Behandlung von Patient*innen mit kardiovaskulären Erkrankungen ratsam ist.

Auch die von Voigtländer und Kollegen in Auszügen referierte ESC-Leitlinie [2] äußert sich neben den somatisch-medizinischen Empfehlungen explizit zu psychosozialen Themen. So wird auf das vermehrte Auftreten von depressiven und Angststörungen bei Koronarpatient*innen ebenso hingewiesen wie auf deren ungünstige prognostische Bedeutung und den Nutzen psychosozialer Interventionen. In Übereinstimmung mit der europäischen Leitlinie zur kardiovaskulären Prävention [8] werden Empfehlungen zur multidisziplinären Behandlung und zu psychologischen Interventionen bei komorbider Depression gegeben. Die Leitlinie befasst sich ausgiebig mit Aspekten von Adhärenzförderung und Lebensstilmodifikation u.a. durch Methoden der kognitiven Verhaltenstherapie, die zentrale Säulen in der Sekundärprävention darstellen.

Sowohl die ESC-Leitlinie als auch die deutsche NVL KHK und das DMP KHK benennen die Lebensqualität neben – oder sogar vor – der Reduktion von Morbidität und Mortalität als ein zentrales Therapieziel. Die NVL KHK sieht zur Förderung der Lebensqualität neben der Reduktion von Angina pectoris-Beschwerden und Erhaltung der Belastungsfähigkeit ausdrücklich auch die Linderung weiterer somatischer und psychischer Beschwerden als geboten an. NVL und DMP KHK lassen mit starken Empfehlungen keinen Zweifel daran, dass psychische und soziale Faktoren bei Koronarpatienten Beachtung finden sollen.

Die DMP-Richtlinie stellt z.B. ohne Wenn und Aber fest: „Im Rahmen der Versorgung von Patientinnen und Patienten mit KHK ist ihre psychosoziale Situation einzubeziehen.“ [4, S. 49]

Die NVL KHK empfiehlt im Einzelnen u.a.:

  • Eine patientenzentrierte Kommunikation zur Unterstützung bei Krankheitsbewältigung und Lebensstiländerung, einschließlich Risikofaktor-Edukation und gemeinsamer Zielvereinbarungen mit den Patient*innen,
  • Einbeziehung anderer Gesundheitsberufe (einschließlich Psychotherapeut*innen) bei der Umsetzung von Verhaltensänderungen,
  • Die regelmäßige Überprüfung der Behandlungsadhärenz und ggfs. Einleitung von Maßnahmen zu ihrer Förderung, bei Bedarf einschließlich fachpsychologischer bzw. psychotherapeutischer Unterstützung,
  • Regelmäßige Erhebung der Lebensqualität und ggfs. Hilfestellung bei Problemen – auch psychosozialer Art – , die die Lebensqualität einschränken,
  • Die orientierende Erfassung psychosozialer Belastungen und psychischer Komorbiditäten (z.B. einer Depression oder Angststörung) durch gezielte Anamnesefragen oder standardisierte Fragebogenverfahren mit ggfs. weiterer diagnostischer Abklärung,
  • Beim Vorliegen psychosozialer Belastungsfaktoren das Angebot multimodaler Verhaltensinterventionen inklusive psychologischer Interventionen zur Reduktion psychosozialer Risikofaktoren und zur Förderung der Krankheitsverarbeitung
  • Bei psychischer Komorbidität psychotherapeutische Maßnahmen und/oder medikamentöse Therapien in Kooperation mit entsprechenden Spezialisten.

Weitere Details finden sich etwa im DGK-Positionspapier [4], das intensiv auch auf die KHK eingeht, sowie in unserem Praxisleitfaden zur Psychokardiologie [9]. Über die bereits in den deutschen und europäischen Leitlinien gegebenen Empfehlungen hinaus können sie helfen, einen blinden Fleck aufzuhellen, der sich aus einer zu einseitigen Fokussierung auf die „technischen“ Aspekte der Behandlung von Patienten mit chronischer KHK ergeben kann.

Für die praktische Fortbildung in psychokardiologischer Grundversorgung bietet die Fort- und Weiterbildungsakademie der DGK seit 2009 regelmäßige Kurse an, die gerade auch praktizierenden Kardiolog*innen dabei helfen, das mittlerweile gut etablierte Leitlinienwissen in der Praxis umzusetzen. Die Honorierung eines solchen leitlinienkonformen Verhaltens lässt freilich noch sehr zu wünschen übrig, weshalb weitere politische Initiativen zur adäquaten Honorierung gesprächsintensiver Leistungen zweifellos geboten sind. Daneben ist aber auch eine Schärfung des Bewusstseins für die Bedeutung psychosozialer Aspekte in der Behandlung von Koronarpatient*innen bei Kolleginnen und Kollegen in Klinik und Praxis und eine bessere interdisziplinäre und intersektorale Integration der Versorgungsangebote erforderlich. Auch heute existieren jedoch bereits einige vielversprechende psychokardiologische Modellprojekte in Akut- und Rehakliniken wie auch in einigen Pionier-Praxen, die bereits konkrete Behandlungsangebote zur Verfügung stellen. Für die ambulante Behandlung sind in den nächsten Jahren aus laufenden Multicenterstudien erweiterte kooperative Behandlungskonzepte zu erwarten.

Univ.-Prof. Dr. med. Christoph Herrmann-Lingen, Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universitätsmedizin Göttingen/Georg August-Universität, Herzzentrum Göttingen, Von-Siebold-Str. 5, 37075 Göttingen

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