Fortsetzung des Artikels „Keine Aufnahme sexueller Kontakte während des Arzt-Patientenverhältnisses“, Hessisches Ärzteblatt 02/2021, S. 124f.

Das Landesberufsgericht für Heilberufe bei dem Hessischen Verwaltungsgerichtshof (LBG) hat in dem 41-seitigen Urteil vom 26. August 2020 (Az.: 25 A 2252/18.B) nicht nur obergerichtlich geklärt, dass „ein Verstoß gegen den essenziellen Grundsatz der sexuellen Enthaltsamkeit in einem Behandlungsverhältnis in jedem Fall eine Ahndung im entsprechenden berufsrechtlichen Verfahren“ erfordere, sondern auch wichtige verfahrensrechtliche Aspekte grundsätzlich behandelt.

Inhalt der Anschuldigungsschrift

Die Verteidigung hatte zunächst gerügt, dass nicht alle rechtlich relevanten Vorschriften der einschlägigen Berufsordnungen in der Anschuldigungsschrift aufgezählt worden seien. Dazu stellt das LBG fest, anders als in § 200 Abs. 1 S. 1 Strafprozessordnung (StPO) sei § 60 Abs. 2 S. 1 des Hessischen Heilberufsgesetzes (HeilBG) nur als „Sollvorschrift“ gefasst und verlange auch keine Bezeichnung der verletzten Rechtsnormen, sondern nur eine „Darstellung“ der verletzten Rechtsnorm. Eine strikte Festlegung allein auf die bezeichneten Vorschriften sei damit offensichtlich nicht bezweckt. Gegenstand der Urteilsfindung seien gemäß § 71 Abs. 1 S. 1 HeilBG die konkret angeschuldigten Handlungen. Das Berufsgericht sei an die in der Anschuldigungsschrift oder dem Eröffnungsbeschluss enthaltenen Rechtsnormen nicht gebunden.

Verhältnis des § 7 Abs. 7 Berufsordnung für die Ärztinnen und Ärzte in Hessen (BO) zu § 174c Strafgesetzbuch (StGB) – sexueller Missbrauch unter Ausnutzung u. a. eines Behandlungsverhältnisses

Der beschuldigte Arzt war in zweiter Instanz nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ von dem strafrechtlichen Missbrauchsvorwurf freigesprochen worden. Im berufsgerichtlichen Verfahren machte die Verteidigung daraufhin geltend, im ärztlichen Berufsrecht könnten keine über den Straftatbestand des § 174c StGB hinausgehenden Berufspflichten begründet sein, denn im HeilBG finde sich keine Rechtsgrundlage für eine so weitgehende Beschränkung sexueller Kontakte, wie sie in § 7 Abs. 7 der aktuellen Berufsordnung – wie auch der Berufsordnung alter Fassung – enthalten seien.

Demgegenüber stellt das LBG fest, die Regelungen zum Verbot der Aufnahme sexueller Kontakte im Umgang mit Patienten sowohl in der früheren als auch der derzeit geltenden Berufsordnung fänden im Heilberufsgesetz eine hinreichende Rechtsgrundlage. Wörtlich heißt es dazu: „Die Regelung sowohl in der früheren als auch in der derzeitigen Berufsordnung findet auch in dem Heilberufsgesetz eine hinreichende Rechtsgrundlage. Nach § 25 HeilBG kann die Berufsordnung im Rahmen des § 22 HeilBG weitere Vorschriften über Berufspflichten enthalten, wobei sodann unter Nr. 1–18 verschiedene Aspekte aufgeführt sind, die jedoch wegen der einleitenden Formulierung ‚insbesondere’ nicht abschließend sind. Es ist daher unerheblich, dass in den konkret aufgeführten Gegenständen, die in der Berufsordnung geregelt werden können, ebenso wenig ein Verbot sexuellen Kontakts mit Patientinnen und Patienten enthalten ist wie in § 23 HeilBG, der ebenfalls Pflichten bei der Ausübung des ärztlichen Berufs aufstellt.“

Ausreichende materielle Rechtsgrundlage im Heilberufsgesetz

Das Verbot der Aufnahme sexueller Handlungen im Arzt-Patienten-Verhältnis findet mithin nach Auffassung des Gerichts im Heilberufsgesetz eine hinreichende und ausreichend bestimmte Rechtsgrundlage. Das LBG folgt, wie auch das Berufsgericht, der Auffassung der Landesärztekammer Hessen, wonach die §§ 22, 25 HeilBG in Verbindung mit den einschlägigen Regelungen der Berufsordnungen (Fassungen von 2008, 2015 und 2019) eine hinreichend bestimmte gesetzlichen Eingriffsgrundlage darstellen und die Freiheit der Berufsausübung wie auch das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur insoweit einschränken, wie der Zweck des ärztlichen Berufsrechts dies erfordert.

Etwas anderes ergebe sich, so das Gericht, auch nicht aus dem von der Verteidigung angeführten „Facharzturteil“ des Bundesverfassungsgerichts vom 9. März 19721 . Neben dem Grundsatz, dass der Gesetzgeber sich seiner Rechtssetzungsbefugnis nicht vollständig entäußern dürfe, indem er diese an andere Stellen übertrage, habe das Bundesverfassungsgericht „jedoch gleichzeitig betont, Artikel 12 Abs. 1 GG gebiete nicht, dass Regelungen, die die Berufsfreiheit beschränken, ausschließlich durch den staatlichen Gesetzgeber oder durch die vom Gesetzgeber ermächtigte staatliche Exekutive getroffen werden müssen. Vielmehr seien solche Regelungen innerhalb bestimmter Grenzen auch in Gestalt von Satzungen zulässig, die von einer mit Autonomie ausgestatteten Körperschaft (Anm. d. Verf.: wie z. B. der Landesärztekammer Hessen, LÄKH) erlassen werden“.

Das Gericht führt weiter aus, die hessische Ärzteschaft habe es zur Sicherung der gewissenhaften Berufsausübung und des Vertrauens der Patientinnen und Patienten hierauf für erforderlich gehalten, über ein Verbot des Missbrauchs der Behandlungssituation (wie in § 174c StGB geregelt) „hinausgehend eine allgemeine Obliegenheit vorzusehen, sich sexuellen Kontakten mit Patientinnen und Patienten gänzlich zu enthalten“. Gegebenenfalls bestehe die Möglichkeit, das Behandlungsverhältnis zu beenden und durch einen anderen Arzt oder eine andere Ärztin weiterführen zu lassen.

Im Hinblick auf diese Handlungsalternative hält das LBG das Verbot auch für verhältnismäßig und somit § 7 Abs. 7 der geltenden Berufsordnung für verfassungskonform.

Fazit und Ausblick

Das Urteil bestätigt die Auffassung der ersten Instanz2 und schafft Rechtsklarheit.

Unabhängig davon, ob eine strafrechtliche Verurteilung im Hinblick auf den zur Beurteilung stehenden konkreten Sachverhalt vorliegt oder nicht, hat somit die LÄKH in der Wahrnehmung ihrer Aufgabe, die Berufsaufsicht über die Kammerangehörigen auszuüben3, einschlägige Vorwürfe aufzugreifen und ihre Validität zu ermitteln. Das LBG hat die Auffassung des Berufsgerichts bestätigt, wonach ein Verstoß gegen den Grundsatz der sexuellen Enthaltsamkeit in einem Behandlungsverhältnis „in jedem Fall eine Ahndung im entsprechenden berufsrechtlichen Verfahren“ erfordert.

Danach besteht auch im Falle strafrechtlicher Verurteilung immer ein berufsrechtlicher Überhang im Sinne von § 63 Abs. 4 HeilBG. Dies folgt daraus, dass die einschlägigen Vorschriften der hessischen Berufsordnung Berufspflichten statuieren, die „über das eine Strafbarkeit auslösende Verhalten“ hinausgehen, so das Gericht.

In Fortsetzung dieser Rechtsprechung hat das Berufsgericht in Gießen kürzlich4 die vorgeschilderte Rechtsprechung vertieft und erweitert, indem es unter anderem folgendes ausführt: „Der Beschuldigte hat mit seinem Verhalten Berufspflichten verletzt. Die Berührungen der Zeugin am Po, der Handkuss, die Umarmung und die Frage ‚Habe ich noch eine Chance Dich zu lieben?’ stellen eine übergriffige sexuelle Annährung dar, die Berufspflichten nach § 25 Nr. 1 HeilBG, § 7 Abs. 7 und Abs. 1 BO verletzt. Seine übrigen verbalen Annäherungen unterfallen § 25 Nr. 1 HeilBG, § 7 Abs. 1 BO. Nach § 7 Abs. 1 BO hat jede medizinische Behandlung unter Wahrung der Menschenwürde und unter Achtung der Persönlichkeit, des Willens und der Rechte der Patientinnen und Patienten, insbesondere des Selbstbestimmungsrechts, zu erfolgen. Nach § 7 Abs. 7 BO dürfen Ärztinnen und Ärzte im Umgang mit Patientinnen und Patienten sexuelle Kontakte weder aufnehmen noch dulden. Die Berührungen der Zeugin waren medizinisch nicht erforderlich und stellten eine unangemessene private Annäherung dar“.

Das Berufsgericht wiederholt sodann die Aussage, eine Verletzung dieser Kernpflichten des Behandlungsverhältnisses erfordere in jedem Falle ein Ahndung im entsprechenden berufsgerichtlichen Verfahren.

Christiane Loizides, Ermittlungsführerin der Berufsgerichtsabteilung der LÄKH, Vizepräsidentin des Verwaltungsgerichts a. D.

Az.: 1 BvR 518/62, 1 BvR 308/64 -, BVerfGE 33, 125; juris, Rn. 106.

Berufsgericht in Gießen, Urteil vom 5. September 2018 – 21 K 683/17.GI.B

Vgl. § 5 Abs. 1 Ziff. 1 HeilBG

4 Rechtskräftiges Urteil vom 08.12.2020, Az.: 21 K 748/19.GI.B.