Runder Tisch der Landesärztekammer Hessen

Die Corona-Pandemie war und ist eine Zäsur in unser aller Leben. Tausende Menschen sind in den vergangenen (über) eineinhalb Jahren erkrankt, viele haben Corona nicht überlebt, andere leiden langfristig körperlich und seelisch unter den Folgen einer Infektion mit dem Virus.

Auch das Leben und der Alltag von Kindern und Jugendlichen ist durch die Pandemie erheblich erschüttert worden. Ein großer Teil der sozialen Kontaktmöglichkeiten ist durch Beschränkungen weggebrochen. Kita oder Schule waren monatelang geschlossen, der Unterricht fand weitgehend online statt. Der Besuch von Sportvereinen oder Clubbesuche waren nicht möglich. Hinzu kamen und kommen bei Kindern und Jugendlichen Zukunftssorgen sowie die Angst, sich selbst und Ältere – z. B. Großeltern – anzustecken. Mit diesen Worten leitete Dr. med. Peter Zürner, Präsidiumsmitglied der Landesärztekammer Hessen (LÄKH), den Runden Tisch „Psychische Folgen von Corona: Wie Kinder und Jugendliche die Krise bewältigen können“ ein, der Anfang Oktober in Frankfurt stattfand.

Mit welchen psychischen Folgen haben Kinder und Jugendliche zu kämpfen? Wie können Ärztinnen und Ärzte, Mitarbeitende von Sozialdiensten, Lehrerinnen und Lehrer sowie Eltern sie am besten unterstützen? Wie können negative psychische Auswirkungen vorgebeugt und die psychische Resilienz trainiert werden? Und wie können staatliche Angebote und Förderprogramme gezielt dabei helfen? Diese und weitere Fragen diskutierten Expertinnen und Experten gemeinsam mit zahlreichen Journalistinnen und Journalisten.

Alarmzeichen für Eltern

Kinder, die morgens nicht mehr aus dem Bett kommen, sich weigern aufzustehen oder die Schule verweigern, die sich sozial zurückziehen oder nur noch online sind – Alarmzeichen, auf die Eltern reagierten sollten, wie Dr. med. Ralf Karlheinz Dieter Moebus, niedergelassener Kinder- und Jugendarzt in Bad Homburg, erläuterte. Während in der Anfangsphase der Corona-Pandemie die Kinder und Jugendlichen in den Praxen vor allem verängstigt waren und sich viele Sorgen, auch um ihre Angehörigen, machten, dominieren mittlerweile psychosomatische Störungen und Schmerzsymptome. „Bei den Kindern zeigt sich dies in Niedergeschlagenheit, manche fallen aber auch durch unangemessenes, unangepasstes Verhalten auf“, so Moebus. Er bestätigte die Ergebnisse der COPSY-Studie (Corona und Psyche, durchgeführt von Forschenden des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE)) von Februar 2021, wonach sich die Lebensqualität und die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland im Verlauf der Corona-Pandemie weiter verschlechtert haben. So litt fast jedes dritte Kind ein knappes Jahr nach Beginn der Pandemie unter psychischen Auffälligkeiten. Ob die Betreuung durch einen niedergelassenen Kinder- und Jugendmediziner genüge, ergebe sich im Verlauf. Insbesondere wenn Symptome wie Suizidalität auftreten, sollte der Wechsel von der ambulanten zur stationären Versorgung folgen. Psychische oder gar psychiatrische Störungen haben in der Regel aber nicht nur eine Ursache, erklärte Dr. med. Martina Pitzer, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie und Klinikdirektorin an der Vitos Klinik Rheinhöhe in Eltville. Die Corona-Pandemie als alleinigen Auslöser zu sehen, sei daher ein Trugschluss. Dennoch verzeichne sie eine Zunahme von ausgeprägteren depressiven Symptomen mit teilweise höherem Schweregrad. „Notaufnahmen mit suizidalen Krisen oder auch nach Suizidversuchen kommen häufiger vor.“ Auch dauere eine Krisenintervention häufig länger, die Symptome seien stärker ausgeprägt. Essstörungen hätten deutlich zugenommen gegenüber Nicht-Coronazeiten. Die Krankheitsbilder und die Behandlungsansätze sind jedoch nicht neu. „Als Team behandeln wir mit verschiedenen therapeutischen Ansätzen, und besonders wichtig ist der Einbezug von Familie und Bezugspersonen“, so Pitzer.

„Kinder brauchen das Gefühl von Normalität, von Struktur und Routine, von geordneten Verhältnissen“, bestätigte Daniel Schröder, Regionalleiter des Kinderprojektes „Die Arche“, Frankfurt a. M., die sich insbesondere um Kinder aus sozial schwachen Milieus bemühen. Während die Arche vor allem die Situation aus Sicht der Kinder selbst erlebt, ergänzte Volkmar Heitmann, Vorstandsvorsitzender des Landeselternbeirats Hessen, die Elternperspektive: „Viele Eltern und Kinder haben sehr unter der Pandemie gelitten. Es gibt aber auch positive Rückmeldungen, z. B. über den Wechselunterricht in kleinen Klassen. Dies sei allerdings sehr abhängig vom jeweiligen Engagement der Lehrkräfte und Schulen. „Viele Lehrkräfte haben das ganz toll gemacht und neue Strukturen geschaffen, andere nicht.“

Risiko- und Schutzfaktoren

Wie im Brennglas – die Pandemie hat die verschiedenen Probleme, die bereits vorher bestanden, nochmals besonders deutlich gemacht. Darin waren sich die Expertinnen und Experten einig. Im schulischen Kontext fehle es insbesondere an qualifizierter Schulsozialarbeit. „Wenn Eltern im Homeoffice arbeiten mussten und gleichzeitig die Kinder zuhause sind, kann das eine große Belastung sein. Da macht es einen großen Unterschied, ob man in beengten Wohnverhältnissen ohne Balkon und Garten lebt“, bekräftigten die Expertinnen und Experten. „Die psychosozialen Belastungen wurden durch Corona verstärkt, und wenn dann die psychosozialen Ressourcen in den Familien eher gering sind, führte dies ganz klar zu Verschärfungen“, so Pitzer. Elementar sei dies für diejenigen, die bereits vor der Pandemie entsprechende Risikofaktoren aufweisen. Während auf der einen Seite das Kumulieren von Risikofaktoren die Wahrscheinlichkeit psychischer Störungen steigere, gebe es auf der anderen Seite aber auch Schutzfaktoren. Dazu gehören emotional stabile Beziehungen, Ansprechpartner, Selbstwirksamkeit. „Das sind Dinge, die in einer ‚normal guten‘ Familie existieren, Ressourcen, um mit schwierigen Situationen besser fertig zu werden.“

Den Leidensdruck der Kinder mindern und den Aufbau von Ressourcen stärken – das ist auch der Ansatzpunkt der Arche. „Wir arbeiten mit über 300 Familien in Frankfurt und merken, dass die Corona-Pandemie den Druck auf sehr viele Familien erhöht hat.“ Die Arche versucht, diese Folgen aufzufangen und den Kindern einen Schutzraum außerhalb der Familien zu geben, wo sie wertgeschätzt werden, Essensangebote bekommen und Unterstützung bei den Hausaufgaben – oder einfach gemeinsam spielen. Extreme Not sei insbesondere bei schulischen Themen entstanden. Sprachen wurden verlernt ebenso wie die Grundrechenarten bei den Grundschülern.

Nicht nur fehlender Präsenzunterricht – auch das Tragen von Masken hat einen Einfluss auf das Lernen der Kinder und Jugendlichen. Die Einschränkung durch Masken sei insbesondere in den ersten beiden Schuljahren sehr hoch, bestätigte Moebus, da vieles über Mimik und Gestik, gerade auch in der Sprach- und Schriftführung erlernt werde. Heitmann kritisierte in diesem Zusammenhang, dass es keine flächendeckende Ausstattung der Schulen mit Raumluftreinigungsgeräten gebe, wodurch sich das Problem mit den Masken auf diese Weise hätte lösen können. Auch er sieht die Belastung des Tragens von Masken besonders an den Grundschulen. Die Schulen würden jedoch mit der Problematik von der Politik alleingelassen, was zu uneinheitlichen Regelungen führe: „Es erschließt sich den Kindern nicht, und uns Erwachsenen übrigens auch nicht. Das führt dazu, dass die Akzeptanz weiter sinkt. Es braucht mutige Entscheidungen, um für die Kinder wieder zu einer gewissen Normalität zu kommen“, forderte Schröder.

Mutige Entscheidungen gefordert

Welche Lehren kann man nun aus der Pandemie ziehen? Was kann perspektivisch getan werden, um Kinder besser zu unterstützen? – fragte Katja Möhrle, Leiterin der Stabsstelle Medien und Moderatorin des Runden Tisches, in die Runde.

Die Probleme bei den Kindern und Jugendlichen seien nicht neu entstanden, sondern durch die Pandemie verstärkt worden. Der Brennglaseffekt habe die Versorgungslücken aufgezeigt. Die Experten fordern daher: mehr Schulsozialarbeit, ein verbesserter Zugang zu psychotherapeutischen und kinderpsychiatrischen Angeboten. „Um die Defizite aus der Coronazeit aufzuarbeiten, brauchen wir wesentlich mehr Lehrkräfte, deutlich mehr Schulsozialarbeit, ebenso wie Räume, um kleinere Klassen zu ermöglichen“, resümierte Heitmann. Auch das Stichwort Digitalisierung und überhaupt vernünftige Konzepte, um Distanzunterricht zu ermöglichen, nannte er. Neben diesen „harten“ Faktoren verwies er außerdem auf das soziale Miteinander: „Wir als Eltern haben weniger Bedenken, dass es an Lehrstoff mangelt. Das soziale Lernen ist unter die Räder gekommen, es muss wieder mehr Sport angeboten werden. Soziale Kompetenzen, der kluge Umgang mit sich selbst muss gefördert werden.“ Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen haben immer in irgendeiner Form mit der Schule zu tun, erklärte Pitzer: „Entweder wirken sie sich auf das Lernverhalten in der Schule aus oder resultieren aus den schulischen Gegebenheiten, Lernanforderungen, sozialen Anforderungen, und tragen so zur Aufrechterhaltung oder zum Entstehen der psychischen Erkrankung bei.“ Damit die Schere hier nicht weiter auseinandergehe, sei es wichtig, nicht mit Nachdruck verlorenen Lernstoff einfach nur aufzuholen. „Wir müssen darauf achten, die Kinder und Jugendlichen, die aufgrund mangelnder Ressourcen und psychischer Belastung nicht so gut vorangekommen sind, jetzt mitzunehmen.“ Eine grundlegende Überarbeitung des Lehrplans sieht auch Moebus als erforderlich. Es fehle aber auch einfach an gut ausgebildetem Personal. „Das liegt nicht am mangelnden Geld, sondern weil wir keine Perspektiven bieten. Die Arbeitsbedingungen für die Kinder- und Jugendpsychotherapeuten in den Kliniken sind schlecht, wir haben zu wenig Ärzte allgemein, wir haben von allem zu wenig.“

„Wir brauchen den Mut, dass die Politik sagt: Wir haben gesehen, da lief nicht alles gut, jetzt werden wir es nicht nur mit Geld neu machen, sondern den Kindern in den Schulen ein gutes Lernumfeld geben“, fasst Schröder zusammen. Ein Wunsch, der hoffentlich Gehör finden wird.

Maren Siepmann