Oxford University Press 2020, ISBN 9780190077242,Hardcover, ca. 25 €, auch als E-Book und Audio-CD

Wie Impfgerüchte entstehen und warum sie nicht weggehen:

Dieser Frage ist Heidi Larson, Professorin für Anthropologie und Direktorin des Vaccine Confidence Projekts an der London School of Hygiene & Tropical Medicine, nachgegangen. Das Skript für ihr Buch war im Januar 2020 fertig, kurz bevor die Corona-Epidemie bekannt wurde. Als Anthropologin haben sie und ihr Team in vielen Ländern überwiegend der sog. Dritten Welt analysiert, welche sozialen Hindernisse bei Impfprojekten auftreten und was die Ursachen hierfür sein könnten. Um Ihnen die Übersetzung einzelner Zitate zu ersparen, paraphrasiere ich diese und gebe die Zitatstellen im Original an.

Das erste Kapitel handelt von Gerüchten, die als eine Art kollektiven Problemlösens und Mittel, Unsicherheit zu bewältigen, betrachtet werden – sei es bei einer neuen Impfung, dem Ausbruch einer unbekannten Erkrankung, Kriegen, Naturkatastrophen oder Pandemien. Gerüchte und Desinformationen stehen oft im Vordergrund medialer Aufmerksamkeit. Sie können aber auch wichtige neue Informationen enthalten. Es gibt eine feine Abstufung zwischen absichtlich schädlichen Gerüchten und unsicheren, jedoch möglicherweise wertvollen Informationen. Vor allem autoritäre Staaten versuchen, Berichte zu kontrollieren, besonders bei Notfällen (XiV).

Ein Hauptthema ist die Beharrlichkeit von Gerüchten – was sie auslöst, wie sie sich verbreiten, wie sie „überwintern“, bis sie ein neues fruchtbares Gebiet finden, um wieder aufzutauchen. Gerüchte zu möglichen „Reinigungsbehandlungen“ oder Verschwörungstheorien wie diese, dass die 5G-Technologie Covid-19 verursache, sind nicht neu, aber finden neue Verbreitungswege. 2003 wurde die 3G-Technologie verdächtigt, SARS zu verbreiten; 2009 zirkulierten Gerüchte, dass 4G die Schweinegrippe verursache. In ähnlicher Weise wurden gefährliche Bleichmittel als Therapie für Autismus, Krebs und jetzt für Corona propagiert. Nicht respektiert zu werden, Misstrauen und das Gefühl, von Eliten kontrolliert zu werden, die kein Verständnis für gefühlte Nöte der Bevölkerung haben, können die Ablehnung von Impfungen verursachen. Diese trifft mit der Erfahrung zusammen, durch die Pandemiemaßnahmen des Staates kontrolliert zu werden (XV).

Die ersten Anti-Impfbewegungen kamen 1850 in England mit der Einführung einer verpflichtenden Pockenimpfung auf. In vielen Pamphleten wurde erklärt, dass diese unnatürlich sei und nicht Gottes Plan entspreche. Auch in den 1970er-Jahren verbreiteten Medien Gerüchte. So wurde 1974 in Großbritannien ein Artikel gestreut, wonach 36 Kinder neurologische Schäden als Folge einer DTP-Impfung erfahren hätten. Ein Medienhype und eine Organisation von Eltern impfgeschädigter Kinder befeuerten Ängste vor der Impfung und ließen die DTP-Impfung von 81 % im Jahr 1974 auf 31 % im Jahr 1980 absinken. Mit der Folge, dass Keuchhusten wieder vermehrt auftrat: 1979 wurden 100.000 Keuchhustenfälle und 36 Todesfälle von Kindern verzeichnet.

Ausführlich beschreibt Larson Probleme bei Impfkampagnen vor allem in der sog. Dritten Welt. Da verknüpfte eine regionale Regierung in Pakistan die Polioimpfkampagne mit der Forderung nach besserer Versorgung mit Elektrizität und blockierte die Impfteams. Die Kritik verselbständigte sich und führte zur Tötung mehrerer Impfteams. Ähnliches geschah in Nigeria. Larson, die diese Ereignisse untersuchte, schlussfolgert: Der Boykott in Nigeria war nicht durch Fakten begründet, die auf Probleme mit dem Polioimpfstoff hinwiesen; vielmehr richtete sich der Widerstand gegen das, wofür die Impfung stand – globale Mächte, die die Kampagne gestalteten, und die nigerianische Regierung, die als Mitspieler der globalen Mächte gesehen wurde (XXViii).

Folgende Faktoren gefährden die Impfkampagnen:

Gerüchte – Schlussfolgerung: Die Impfung selbst war nicht das Thema. Es ging um Selbstbestimmung, Würde/Respekt und Misstrauen (21).

Würde und Misstrauen – Schlussfolgerung: Wissenschaftler müssen darauf achten, Angst und Zurückhaltung nicht als Ignoranz zu behandeln. Elterliche Befürchtungen benötigen Empathie und keine Verurteilung (28).

Risikowahrnehmung – Die Einschätzung eines Risikos wird als Resultat einer vernünftigen, von Emotionen beeinflussten Abwägung betrachtet. Laut Risikospezialist Paul Slovic arbeiten diese beiden Systeme parallel und beeinflussen sich wechselseitig. Das Problem sei, dass Vertreter der formalen Risikoanalyse dazu neigten, emotionale Reaktionen als irrational abzutun. Die Unterstellung, dass Gefühle irrational seien, trage zu Entfremdung und Ärger auf das „System“ und wissenschaftliche Eliten bei (35).

Emotionale Ansteckung – Wie Emotionen und körperliche Symptome durch Angst und Stress ausgelöst werden, wurde jahrzehntelang untersucht. Neuerdings scheint dieses Phänomen – beschrieben als Mass Psychogenic Illness (MPI) – auch durch digitale Medien wie Facebook verbreitet zu werden. Larson stellt MPI an mehren Beispielen dar. So sei die durch unterstellte Verbindungen von MPI-Symptomen und der HPV-Vakzine ausgelöste Panik Ursache für ein dramatisches Absinken der Impfrate in Kolumbien, Dänemark und Japan gewesen (95). Der MPI-Experte Bartholomew stellt fest: Wir scheinen einen Meilenstein in der Geschichte von MPI zu erleben, Hauptinstrumente der Verbreitung sind nun das Internet und die sozialen Medien (94).

Die Kraft des Glaubens – Der Glaube an die „Natur“ und natürliche Behandlungsweisen kann stark sein. Der wachsende Trend zu alternativen Gesundheitsvorstellungen von Naturheilverfahren bis zur Homöopathie wird Teil eines allgemeinen Lebensstils, der biologische und genetisch unveränderte Lebensmittel sowie ein vakzinfreies Aufziehen der Kinder einschließt (100).

Die Zuversicht, die Vertreter alternativer Ansätze verbreiten, ist beeindruckend: Gesunde Kinder sterben nicht an...; unsere Kinder sind gesund und haben ein starkes Immunsystem. Das Vertrauen in die Natur ist mächtig, fast religiös. Wenn Erkrankungen natürlich auftreten, ist es akzeptabler und verursacht weniger Schuld, als dies eine mögliche Impfnebenwirkung könnte (104).

Heidi Larson legt mit ihrem Buch eine umfassende Studie vor, die erläutert, warum es schwer ist, Impfskeptiker rational zu überzeugen. Vertrauen in den Staat und Experten kann aus völlig anderen Gründen gestört und zerrüttet sein und führt zu mangelnder Impfakzeptanz. Das Lächerlichmachen und öffentliche Verurteilen von Impfskeptikern ist keine zielführende Maßnahme.

Dr. med. Peter Zürner, Präsidiumsmitglied der Landesärztekammer Hessen