Vor 100 Jahren tobte weltweit die spanische Grippe. Ihr fielen 20 bis 50 Millionen Menschen zu Opfer, bei einer Gesamtbevölkerung von seinerzeit 1,8 Milliarden Menschen auf Erden. Wir haben heute (Stand 4. August 2020) bei einer Bevölkerungszahl von ca. 7,8 Milliarden 694.715 Covid-19-Opfer zu beklagen (Johns Hopkins University). Die Pandemie traf seinerzeit auf eine erschöpfte, vom Weltkrieg gezeichnete Bevölkerung. In den verarmten Massenunterkünften herrschte Unterernährung, es grassierten Krankheiten wie Cholera und insbesondere die Tuberkulose war verbreitet. Zum Glück sind die Bedingungen heute anders. Das durchschnittliche Sterbealter unserer Bevölkerung in Deutschland lag im Jahr 2018 bei 79 Jahren (Statistisches Bundesamt), das Sterbealter der an der Covid-19-Erkrankung Verstorbener wird im Durchschnitt mit 81 Jahren angegeben (Robert Koch-Institut). Die Reproduktionszahl liegt seit dem 20.03.2020 um plus-minus 1, der Lockdown wurde am 23.03.2020 begonnen.

Für die Akzeptanz durch die Gesellschaft und auch für die Rechtmäßigkeit einer Staatshandlung halte ich es für unerlässlich, dass die ergriffenen Maßnahmen angemessen, zweckmäßig und zielführend sind. In Anbetracht der bereits erkennbaren „Kollateralschäden“ erscheinen Angemessenheit und Zweckmäßigkeit jedoch nicht immer als gegeben. Die durch die Pandemiebekämpfung resultierenden anderweitigen gesundheitlichen und auch psycho-sozialen Schäden werden bisher weder berücksichtigt noch systematisch erfasst und dargestellt. Ich denke hier zum Beispiel an aus Angst oder aus Kapazitätsgründen verschobene oder gar unterbliebene Behandlungen, psychische (und körperliche?) Schäden durch räumliche Enge, zu erwartende wirtschaftliche Schwierigkeiten zahlreicher Bürgerinnen und Bürgern – mit steigender Konfliktträchtigkeit und Suizidalität.

Auch die Beeinträchtigung der Ausbildung und der sozialen Entwicklung ganzer Schuljahrgänge sei hier erwähnt. Erste Untersuchungsergebnisse zur Wirkung längerer Isolierungsmaßnahmen auf Jugendliche werden gerade veröffentlicht (Universität Leipzig).

All diese Effekte und Gefahren lassen sich durch ein Füllhorn aus Steuermittel (200 bis 1.500 Milliarden Euro, je nach Zählweise) nicht einfach entschärfen. In der Gesamtbetrachtung darf die Behandlung einer Erkrankung nicht schlimmer sein als die Krankheit selber – siehe das historische Beispiel Spanischer Phips.

Michael Andor, Präsidiumsmitglied der LÄKH, Facharzt für Allgemeinmedizin, Groß-Gerau

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Die Spanische Grippe

Aus dem „Groß-Gerauer Kreisblatt vom 15. Juli 1918

Der Artikel aus dem „Groß-Gerauer-Kreisblatt“ als „Faksimile“ dargestellt. Die Transkription finden Sie nachfolgend:

Die „spanische Krankheit“ war schon mal da. In Johann Sebastian Müllers „Annalen des Chur - und Fürstlichen Hauses Sachsen von anno 1400 bis 1700“ steht unter dem 12. September 1580: „In diesem Jahr ist in Sachsen und Meißen eine Seuche irregegangen, welche man den „Spanischen Phips“ genennet. Den Leuten kam es erstlich mit Frost an, etlichen auch mit Hitze wurden wund in Hälsen, währete aber etwa drei oder vier Tage. Diejenigen, so zur Ader ließen, starben meistenteils, die Anderen aber nicht. Und soll diese Krankheit durch ganz Europa gegangen sein.“