Prof. Dr. med. René Gottschalk, Prof. Dr. med. Ursel Heudorf

„Pessima tempora plurimae leges“/„In schlechtesten Zeiten gibt es die meisten Gesetze“

Vieles verläuft anders bei Covid-19, einer Pandemie, die durch das SARS-CoV-2- Virus verursacht ist, als man das von früheren Pandemien kannte. Die teilweise sehr einschneidenden Maßnahmen bei dieser Pandemie wurden von politisch Verantwortlichen angeordnet, ohne dass die Erfahrungen früherer Pandemien ausreichend berücksichtigt wurden. Ein Problem hierbei war (und ist), dass überwiegend virologische Fachexpertise zur Beratung genutzt wurde, um die Maßnahmen zu beschließen; Fachärzte für Öffentliches Gesundheitswesen, die für solche Situationen eine lange aufwendige Weiterbildung absolvieren müssen, waren nur selten involviert. Das Bundesland Hessen ist hier als positive Ausnahme zu nennen.

Auch jetzt muss man feststellen, dass man von den (richtigen) Strategien „Containment“ (Eindämmungsstrategie), „Protection“ (Schutzstrategie für vulnerable Gruppen) und „Mitigation“ (Folgenminderungsstrategie), die im nationalen Pandemieplan des Robert Koch-Institutes (RKI) beschrieben sind, komplett abweicht und derzeit ausschließlich „Containment“ betreibt, was angesichts der Fallzahlen dringend überdacht werden sollte.

Deutschland ist nicht durch „Glück“ bislang so gut durch diese Krise gekommen: Natürlich ist die Bettenkapazität (vor allem Intensivbetten) ein wesentlicher Faktor. Aber den entscheidenden Anteil hat(te) die Arbeit der Gesundheitsämter, die die meisten Indexfälle und deren Infektionsketten nachverfolgen konnten. Dadurch kam es zur schnellen Isolierung von Indexfällen bzw. zur Quarantänisierung von Kontaktpersonen. Ob dies bei einer Erkrankung, die zum weitaus größten Teil bei den Patienten leicht oder gar asymptomatisch verläuft, sinnvoll ist, muss bezweifelt werden, zumal der Preis – neben der massiven Gefährdung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Strukturen – eine völlige Auflösung der gängigen Arbeitsabläufe in den Gesundheitsämtern ist, die ihre vielfältigen präventiven Aufgaben nicht mehr wahrnehmen können. Das einzig stabile in dieser Pandemie ist das Virus – es hat sich seit der erstmaligen Beschreibung Ende 2019 nicht wesentlich verändert.

Um nicht missverstanden zu werden: Wir nehmen Covid-19 durchaus als eine ernst zu nehmende Situation wahr: Beispielsweise tagt seit dem 22. Januar 2020 jeden Tag (teilweise auch an Wochenenden und an Feiertagen) der Führungsstab im Gesundheitsamt Frankfurt am Main. Seit dem 1. Februar arbeitet das Amt an sieben Tagen pro Woche.

Schule ist kein „Hochrisikoarbeitsplatz“

Dennoch ist ein Diskurs angebracht: Die geplante wiederholte Testung von Lehrern, Erziehern etc. ist diskussionswürdig: Zum einen sind Kinder – insbesondere kleine Kinder in Kitas – allenfalls ausnahmsweise in der Lage, Erwachsene anzustecken. Umgekehrt können aber Lehrer, wenn auch selten, ihre betreuten Kinder anstecken, wie Studien mittlerweile gut belegen. Die Schule ist also kein „Hochrisikoarbeitsplatz“. Warum Mitarbeiter im Gesundheitswesen ein geringeres Risiko haben sollen als Lehrer, kann nicht nachvollzogen werden. Vielleicht liegt es daran, dass sie einen Mund-Nasenschutz tragen, was bei Beschäftigten in Kindergemeinschaftseinrichtungen ebenso sinnvoll wäre, damit sie ihre Schüler nicht gefährden. Stattdessen wird Diagnostik vor Prävention gesetzt – dies ist eindeutig abzulehnen, zumal die Gesundheitsämter den positiven (oder vermeintlich positiven) Fällen nachgehen, Kontaktpersonen ermitteln und Isolierungen/Quarantänen aussprechen müssen. Vermeintlich positiv deshalb, weil die Testgenauigkeit bei der momentan vorliegenden Prävalenz von Covid-19 in der Bevölkerung ein positives Testergebnis ergeben kann, obwohl die Getesteten negativ sind – und dies gilt nur für wirklich geeignete Tests!

Die Impfung der Bevölkerung wird Jahre dauern

Und auch der Blick auf Impfstoffe, die unsere Probleme lösen werden, ist leider in der näheren Zukunft nicht zielführend. Nimmt man an, dass sich bei Verfügbarkeit eines Impfstoffes zunächst 50 % der Bevölkerung impfen ließen, würde das für die Stadt Frankfurt am Main bedeuten, dass ca. 400.000 Menschen zu impfen sind. Erfahrungsgemäß ist die anfängliche Verfügbarkeit eines Impfstoffes außerordentlich limitiert – es kann daher vermutlich mit maximal 2.000 bis 3.000 Impfdosen wöchentlich gerechnet werden. Wahrscheinlich muss mehrfach geimpft werden. Auf Frankfurt am Main umgerechnet würde dies bedeuten, dass man Jahre mit der Impfung der Bevölkerung beschäftigt wäre – und während dieser Zeit beständig neue Fälle auftreten werden.

Mittel der Pandemie-Bekämpfung: Breite Diskussion wäre wichtig

Auch ist die derzeit geführte Diskussion der Übertragungsmöglichkeit durch Aerosole von der Realität weit entfernt: Wäre dies ein wichtiger Übertragungsweg, hätten wir eine gänzlich andere epidemiologische Ausbreitung.

Angesichts des Verlaufs und der Ausprägung der Pandemie sowie der bisher vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse und praktischen Erfahrungen bedarf es dringend einer breiten öffentlichen Diskussion zu den Zielen und Mitteln der Pandemie-Bekämpfung. Diese Diskussion muss, über rein virologische Fragen hinaus, ethische Aspekte sowie rechtliche Fragen zum legitimen Zweck, der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit der Maßnahmen umfassen.

9 Punkte als Maßnahmenkatalog

Bis dahin wären aus unserer Sicht folgende Maßnahmen richtig:

  1. Einhaltung des Abstandgebotes und, wo dies nicht möglich ist, das Tragen einer Mund-Nasenbedeckung. Dies sind wirksame Maßnahmen – insbesondere in Innenräumen.
  2. Empfehlenswert ist häufiger Aufenthalt im Freien; bei Aufenthalt in Innenräumen muss auf eine gute (Quer)-Lüftung geachtet werden.
  3. Symptomatische Menschen sollen sich auf SARS-CoV-2 testen lassen und vorsorglich Kontakte zu Dritten einschränken. Arbeiten sie im medizinisch-pflegerischen Bereich, müssen sie umgehend den Arbeitgeber informieren.
  4. Krankenhäuser, niedergelassene Ärzte, Altenpflegeheime etc. haben sich mit ausreichend persönlicher Schutzausrüstung für das Personal auszustatten. Die Mitarbeiter müssen diese sachgerecht einsetzen und die Regeln guter Basis-Hygiene umsetzen.
  5. In Schulen, Kitas oder ähnlichen Einrichtungen sind die Regeln guter Hygiene zu beachten (Lüften, Händehygiene, Sanitärhygiene). Darüber hinaus soll Personal als wirksame präventive Maßnahme in der Regel eine Mund-Nasenbedeckung tragen (Prävention vor Diagnostik). Getestet wird nur anlassbezogen; nur enge Kontaktpersonen werden quarantänisiert – eine komplette Schließung dieser Einrichtungen wird allenfalls ausnahmsweise erforderlich.
  6. Die Beratung der politischen Verantwortlichen muss durch einen Beraterstab verschiedener Experten durchgeführt werden. Hierbei müssen erfahrene Fachärzte für Öffentliches Gesundheitswesen eine wesentliche Rolle spielen.
  7. Die Bevölkerung muss sachgerecht informiert werden. Absolutzahlen der positiv Getesteten sind wenig aussagekräftig; sie müssen ins Verhältnis zu den Getesteten insgesamt gesetzt werden und nach asymptomatischen Infektionen oder schweren Erkrankungen differenziert werden.
  8. Bereits jetzt müssen Impfstrategien für die Bundesländer vorbereitet werden.
  9. Wo immer dies mit angemessenen Maßnahmen möglich ist, erfolgt ein gezieltes „Containment“ durch den Öffentlichen Gesundheitsdienst. Allerdings müssen „Protection“ und „Mitigation“ jetzt mehr in den Vordergrund rücken. Da die besonders gefährdeten Patientengruppen mittlerweile gut bekannt sind, ist dies relativ leicht möglich.

Mit diesen Maßnahmen wird es möglich sein, gut über die nächste Zeit zu kommen. Und dies bei weitest gehender Schonung aller verfügbaren Ressourcen und unter Vermeidung weiterer massiver Beschränkungen der Gesellschaft.

Unabhängig davon sei nochmals an die oben genannte dringend erforderliche, breite öffentliche Diskussion zu den Zielen und Mitteln der Pandemie-Bekämpfung erinnert – unter Berücksichtigung des Krankheitsbildes sowie ethischer (primum non nocere) und rechtlicher Fragen (Primat des mildesten Mittels).

Prof. Dr. med. René Gottschalk, Prof. Dr. med. Ursel Heudorf

Der Artikel wurde am 29. August 2020 eingereicht und basiert auf dem zu dieser Zeit vorliegenden Stand.

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