Risikomanagement: „Kein Sprint, sondern ein Langstreckenlauf“ – ein Gespräch mit Dr. med. Heike Kahla-Witzsch

Wozu wird ein Risikomanagementsystem benötigt? Aus welchen Komponenten besteht es? Welche Vorteile ergeben sich daraus für die Organisation? Welchen Einfluss haben aktuelle Entwicklungen? Der 11. Teil dieser Serie dreht sich im Gespräch mit Dr. med. Heike Kahla-Witzsch um den Einfluss von Risikomanagementsystemen auf die Patientensicherheit.

Welchen Nutzen hat das Risikomanagement (RM) insbesondere in Bezug auf die Patientensicherheit?

Dr. med. Heike Kahla-Witzsch, MBA: Klinisches RM regelt die Strukturen, Verantwortlichkeiten und erforderlichen Maßnahmen zu einem bewussten Umgang mit Risiken in der Patientenversorgung. Es unterstützt die Führungsverantwortlichen im bestmöglichen Umgang mit Risiken und ist Teil einer guten Unternehmensführung. So können vermeidbare Schädigungen auf das geringstmögliche Maß reduziert werden – denn absolute Sicherheit kann es nicht geben.

Welche Ansätze verfolgt RM?

Kahla-Witzsch: Das primäre Ziel von RM ist die Früherkennung von Risiken und deren Bewältigung, bevor sie einen schwerwiegenden Schaden verursachen. Die zunehmende Komplexität der Patientenversorgung und die damit einhergehenden Risiken können damit natürlich nicht aufgehoben werden, jedoch kann RM einen Beitrag dazu leisten, mit dieser Komplexität besser umzugehen.

Ferner hilft RM bei der Priorisierung der wesentlichen Risiken. Hier gilt: Weniger ist mehr! Denn das Ziel ist es, aus der Fülle der Risiken diejenigen zu identifizieren, die ein hohes Schadensausmaß verbunden mit einer hohen Eintrittswahrscheinlichkeit aufweisen. So können gezielte Maßnahmen gegen diese relevanten Risiken entwickelt werden. Weiterhin fördert RM das Lernen aus Fehlern und den Aufbau einer Sicherheitskultur. Damit leistet es einen wichtigen Beitrag zur Erhöhung der Patienten- aber auch der Mitarbeitersicherheit – beispielsweise im Hinblick auf die Second-Victim-Problematik. (Siehe Teil 8, HÄBL 07/08 2020, S. 444).

Ist RM ausreichend gesetzlich verankert?

Die Qualitätsmanagementrichtlinie des G-BA [1] gibt klare Vorgaben zum klinischen RM. In Hessen werden diese durch die Patientensicherheitsverordnung [2] von 2019 ergänzt. Hessen fordert auch als bisher einziges Bundesland von Krankenhäusern, qualifizierte Patientensicherheitsbeauftragte zu benennen. Die gesetzlichen Grundlagen sind in jedem Falle ausreichend. Die entscheidende Frage ist jedoch, wie diese umgesetzt, überprüft und bewertet werden.

Wie beurteilen Sie den Umsetzungsstand von Risikomanagement im deutschen Gesundheitswesen?

Kahla-Witzsch: Aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen betreiben Einrichtungen des Gesundheitswesens seit langem ein betriebswirtschaftliches RM. Das klinische RM erhielt einen deutlichen Schub mit dem Patientenrechtegesetz [3] aus dem Jahr 2013, das im SGB V [4] klinisches RM und Maßnahmen zur Patientensicherheit fordert. Viele Einrichtungen haben seitdem zahlreiche Aktivitäten zur Verbesserung der Patientensicherheit wie zum Beispiel OP-Checklisten oder Patientenidentifikationsarmbänder eingeführt. Häufig jedoch fehlt ein strukturiertes Vorgehen – das eigentliche RM-System. Auch ist die Sichtweise von RM eher präventiv, vorausschauend – Organisationen handeln jedoch häufig reaktiv und ergreifen Maßnahmen erst nachdem ein Ereignis eingetreten ist, um es zukünftig zu verhindern.

Warum braucht klinisches Risikomanagement eine Struktur?

Kahla-Witzsch: RM verfolgt einen ganzheitlichen, systemischen Ansatz, da Risiken in allen Bereichen auftreten können und sich häufig gegenseitig beeinflussen. Zudem sind ihre Ursachen oft komplex und erfordern ein ganzes Maßnahmenbündel unter Beteiligung verschiedener Professionen und Abteilungen. Damit RM gelingt, braucht es daher eine Struktur mit klaren Regeln und Verantwortlichkeiten zur Koordination dieser Aktivitäten sowie die erforderlichen Ressourcen.

Warum ist RM eine Führungsaufgabe?

Kahla-Witzsch: Wie der Name schon sagt, befasst sich RM mit dem Management, also dem Umgang und der Steuerung von Risiken. Dies ist eine originäre Führungsaufgabe. Die Krankenhausleitung verantwortet das RM-System und benennt die Risikoeigner für spezifische Risiken. Das sind Führungskräfte, die die Kompetenz und Befugnis haben, bezüglich eines Risikos Entscheidungen zum Umgang damit zu treffen und Maßnahmen zu verantworten. So ist beispielsweise der Chefarzt der Risikoeigner für Patientensicherheitsrisiken in seinem Verantwortungsbereich. Eine weitere Führungsaufgabe ist die Gestaltung der Sicherheitskultur der Organisation. Ohne diese kann RM nur wenig bewirken. Führungskräfte haben auch eine besondere Vorbildfunktion im Umgang mit Risiken und sicherheitsbewusstem Arbeiten.

Wie hängen Qualitätsmanagement, RM und Patientensicherheit zusammen?

Kahla-Witzsch: RM und Qualitätsmanagement (QM) bilden zwei Seiten einer Medaille – daher empfiehlt die G-BA-Richtlinie auch Doppelstrukturen tunlichst zu vermeiden und einen integrativen Ansatz zu verfolgen. Die Aufgabe des QM besteht primär darin, Prozesse und Abläufe eines Krankenhauses so zu regeln, dass sie sicher und zuverlässig funktionieren und zum gewünschten Ergebnis führen. Dazu müssen die erforderlichen Strukturen und Ressourcen gegeben sein. Lange Zeit zielte QM auf Patientenzufriedenheit, Effizienz und Effektivität. Nun fordert die G-BA-Richtlinie Patientensicherheit als primäres Ziel und bedient sich hierzu der Instrumente des RM. Während QM eher den Normalbetrieb regelt, befasst sich RM mit den Katastrophen, den „credible worst cases“. Dabei nutzt es die Ressourcen des QM zur Risikosteuerung. RM kann bewirken, dass QM sich auf die Prozesse und Tätigkeiten mit einem hohen Gefährdungspotenzial konzentriert. Insgesamt geht es also nicht um die Frage, ob wir QM oder RM betreiben – wir benötigen beides.

Wie kann die praktische Umsetzung von Risikomanagement gelingen?

Kahla-Witzsch: Zuerst muss die Leitungsebene ein gemeinsames Verständnis für die Etablierung eines RM-Systems und seiner Ziele entwickeln. Dann muss analysiert werden: Welche Aktivitäten zur Förderung der Patientensicherheit bestehen und wie wirksam sind sie? Wie stellen wir die Erfüllung gesetzlicher Anforderungen sicher? Wie sind Verantwortlichkeiten geregelt und welche Kommunikationsstrukturen bestehen? Und: Welche Instrumente des klinischen RM sind bereits vorhanden, beispielsweise Fehlermeldesysteme, Morbiditäts- und Mortalitätskonferenzen (M&M), Risikoaudits, und wie wirksam sind sie? Danach sollten die relevanten Risiken für die Einrichtung ermittelt werden.

Auf dieser Grundlage wird eine RM-Strategie festgelegt, die Ziele, Zuständigkeiten, Verantwortlichkeiten, Methoden und mögliche Ressourcen regelt. Der Betrachtungshorizont erstreckt sich hierbei auf drei bis fünf Jahre – denn RM ist kein Sprint, sondern ein Langstreckenlauf. Die größte Herausforderung ist meines Erachtens dann die Entwicklung einer Sicherheitskultur. Natürlich wollen alle eine sichere Patientenversorgung und niemand möchte willentlich einem Patienten schaden. Doch wenn es zu Zielkonflikten, beispielsweise zwischen ökonomischen und Zielen der Patientensicherheit kommt, entscheidet man im Zweifel für die Sicherheit? Oder: Wie geht man mit Fehlern um?

Welche Rolle spielt der einzelne Arzt im Hinblick auf die Umsetzung von RM?

Kahla-Witzsch: Patientenversorgung und die dabei auftretenden Risiken sind interdisziplinär, interprofessionell und sektorenübergreifend zu betrachten. Natürlich tragen Ärzte eine besondere Verantwortung im Rahmen einer sicheren Patientenversorgung und jeder ist für sein individuelles Handeln verantwortlich. Doch ein einzelner Arzt kann bei systembedingten Risiken nur wenig ausrichten. Patientensicherheit ist damit immer Ergebnis einer Teamleistung.

Was sind aus Ihrer Sicht derzeit die wichtigsten Risikoaspekte im Hinblick auf Patientensicherheit in Klinik und Praxis?

Kahla-Witzsch: Es gibt keinen allgemeingültigen Katalog der Patientensicherheitsrisiken, zumal sich diese je nach Fachgebiet, Versorgungsstufe und Sektor in Art, Ursachen und Auswirkungen erheblich unterscheiden können. Doch einige Risiken können in vielen Bereichen auftreten. Dies trifft zum Beispiel auf Risiken im Medikationsprozess, auf nosokomiale Infektionen, Verwechslung von Patienten, Befunden oder Eingriffen, Fehldiagnosen oder Fehlbehandlungen zu. Besonders an Schnittstellen oder Sektorengrenzen können durch Informationsverluste oder -fehler Risiken entstehen. Weitere Risikoursachen können im Umgang mit Medizinprodukten, der Überforderung oder Überlastung des Personals oder Sprachbarrieren liegen, um nur einige zu nennen.

Welchen Einfluss hat die aktuelle Entwicklung zur Covid-19-Pandemie auf Risikomanagement-Systeme?

Kahla-Witzsch: Ich hoffe sehr, dass aus den Erfahrungen der Corona-Pandemie die Erkenntnis erwächst, dass ein eingeübtes Notfall- und Krisenmanagement als Teil des klinischen RM hilfreich bei der Bewältigung außergewöhnlicher Ereignisse ist, ob dies nun eine Pandemie oder ein Ereignis anderer Art ist – ganz gemäß dem Grundsatz: Rechne mit dem Schlimmsten, bereite dich vor und hoffe auf das Beste.

Dr. med. Heike A. Kahla-Witzsch, MBA, (Foto) ist Fachärztin für Urologie und absolvierte diverse nationale und internationale Studien und Weiterbildungen zum Qualitäts- und Risikomanagement. Sie erwarb u. a. die Bezeichnungen Master in Total Quality Management, Ärztliches Qualitätsmanagement, Master of Business Administration (MBA) und ist zertifizierte Risikomanagerin nach ONR 49003. Als Qualitätsmanagementbeauftragte der Klinik für Urologie und Kinderurologie der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main arbeitete sie an der Einführung eines QM-Systems und der Zertifizierung der Klinik. Im Anschluss leitete sie bis 2005 die Stabsstelle Qualitätsmanagement des Klinikums. Aktuell ist sie als selbstständige Beraterin und Auditorin im Gesundheitswesen tätig und bildet klinische Risikomanager aus. Die Autorin von diversen Fachbüchern ist als Dozentin für die Landesärztekammer Hessen aktiv. 2001 erhielt sie den Theodor-Stern-Stiftungspreis der Theodor Stern-Stiftung zur Förderung des Universitätsklinikums Frankfurt am Main.

Interview: Silke Nahlinger, Katrin Israel-Laubinger, Nina Walter

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