Entwicklung eines Fortbildungsangebotes im Bereich interpersonelle Kompetenz

Dr. med. Susanne Frankenhauser, MME; PD Dr. med. Matthias Münzberg; Martin Egerth; Prof. Dr. med. Dr. med. habil. Reinhard Hoffmann

Einleitung

Bereits vor fast 20 Jahren wurde im viel-zitierten US-Medizinreport „To err is human“ [1] das Thema Fehlerkultur im medizinischen Bereich thematisiert. Die damaligen Erhebungen kamen zu dem Ergebnis, dass medizinische Fehler die achthäufigste Todesursache in den USA darstellten. Donchin et al. zeigten, dass auf einer Intensivstation durch medizinisches Personal 1,7 Fehler pro Tag und Patient gemacht werden [2].

Hat sich die Medizin seitdem verändert? Wie steht es um eine Sicherheitskultur in der Medizin heutzutage bei der Dominanz von Themen wie zunehmender Fachkräftemangel und omnipräsenter wirtschaftlicher Druck?

Aktuelle Entwicklung

2016 veröffentlichte das BMJ eine Studie [3], die „medical error“ als die mittlerweile sogar dritthäufigste Todesursache in den USA, nach Herz-Kreislauf- sowie Krebserkrankungen, detektiert. Aufgrund dessen erscheint es essenziell, dass sich die Medizin nun zwingend mit der Thematik Fehler- bzw. Sicherheitskultur auseinandersetzen muss.

Das Arbeiten im medizinischen Bereich ist zunehmend geprägt durch einen steigenden Workload. Zusätzlich existiert häufig eine mentale Belastung des Personals durch eine stets mögliche vitale Bedrohung der behandelten Patienten. Zeitgleich wird typischerweise eine ausgeprägte situative Aufmerksamkeit mit einer schnellen Abfolge kognitiver Prozesse zur Entscheidungsfindung vom medizinischen Fachpersonal erwartet. Dementsprechend hoch ist die Anfälligkeit für Fehler, kritische Situationen und schlussendlich sicherheitsrelevante Vorfälle. Ein Großteil solcher Zwischenfälle im medizinischen Bereich beruht auf einem Mangel an kognitiven und zwischenmenschlichen Fertigkeiten.

Definitionen

Das Aktionsbündnis Patientensicherheit definiert „Fehler“ wie folgt: „Eine Handlung oder ein Unterlassen, bei dem eine Abweichung vom Plan, ein falscher Plan oder kein Plan vorliegt. Ob daraus ein Schaden entsteht, ist für die Definition des Fehlers irrelevant.“ Zu beachten ist hierbei, dass demzufolge ein Fehler nicht gleichgesetzt werden muss mit einer Komplikation oder sicherheitsrelevanten Vorfällen. Diese können zwar Folge von Fehlern sein, aber auch als schicksalhafter Verlauf ohne ursächliche Fehler auftreten. Es erscheint essenziell, Fehler in der Medizin zu thematisieren und diesen Bereich näher zu beleuchten. Oft gehen Fehlern negative Umgebungsbedingungen voraus: Zeitdruck, Personalmangel, Müdigkeit etc., so dass auch diese zwingend in die Analyse miteinbezogen werden müssen. Unglücklicherweise werden nicht alle Fehler rechtzeitig erkannt und entsprechende Gegenmaßnahmen eingeleitet. Dies kann im weiteren Verlauf zu kritischen Situationen führen, also Situationen, in denen die Sicherheit von Patienten bedroht ist.

Werden sowohl negative Umgebungsbedingungen, Fehler als auch kritische Situation nicht wahr- bzw. ernst genommen, so können daraus entsprechend sicherheitsrelevante Vorfälle entstehen. Diese Vorfälle werden umgangssprachlich häufig als die eigentlichen „Fehler“ klassifiziert, wobei diese Betrachtungsweise eindeutig zu eindimensional ist, da in diesem Fall die Ursachen bzw. die Einflussfaktoren auf eine solche Fehlerkette nicht berücksichtigt werden.

Fallbeispiel: Ein Patient benötigt eine Bluttransfusion und der hierfür vorgesehene Bed-Side-Test zur letzten bettseitigen Kontrolle der Blutgruppe wird durch den Stationsarzt aufgrund von Zeitdruck nicht durchgeführt. Es folgt eine kritische Situation für den Patienten, da die Gefahr einer Fehltransfusion deutlich erhöht ist. Schlussendlich könnte es in dieser Situation zu einem sicherheitsrelevanten Vorfall kommen (Transfusionszwischenfall bei Fehltransfusion).

Datenlage

In einer 2018 veröffentlichten Untersuchung wurden 800 Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU) zu dem Thema Sicherheitskultur befragt. Die häufigsten berichteten Ursachen für Fehler im Arbeitsumfeld waren Zeitdruck, mangelnde Kommunikation, Personalmangel, Stress, Überforderung, mangelndes Situationsbewusstsein und schlechte Teamarbeit (Mehrfachangaben möglich, siehe Abb. 1). Diese Ursachen wurden jeweils von mindestens 30 % der Befragten als Einflussfaktoren auf Fehler im Berufsalltag identifiziert. Es zeigten sich lediglich marginale Unterschiede hinsichtlich der verschiedenen Hierarchie- bzw. Ausbildungsstufen der Befragten. Ärztinnen und Ärzte in Weiterbildung erwähnten den Einflussfaktor „Müdigkeit“ etwas häufiger als Oberärzte, diese hingegen gaben „Überforderung“ einen höheren Stellenwert hinsichtlich der Entstehung von Fehlern.

Von der Fehler- zur Sicherheitskultur

Die häufigsten Ursachen für Fehler im medizinischen Bereich basieren auf menschlichen Faktoren (z. B. mangelnde Kommunikation, schlechte Teamarbeit, mangelndes Situationsbewusstsein) [4]. Wichtiges Ziel der Medizin sollte es sein, dass eine im Alltag oftmals vorherrschende Fehlerkultur mit häufig isoliertem Blick in die Vergangenheit und Fixierung auf Komplikationen bzw. einzelne Personen in eine Sicherheitskultur geändert werden sollte: Wir müssen den Blick in die Zukunft richten und Fehler (auch ohne aufgetretene kritische Situationen oder sicherheitsrelevante Vorfälle) selbstkritisch analysieren, um aus ihnen Lösungsstrategien zu entwickeln. Ein gemeinsames Ziel der Medizin sollte uns einen: Die Sicherheit der uns anvertrauten Patientinnen und Patienten.

Mit dem Titel „To err is human“ lag der Fokus im Jahre 2000 noch stark auf der Betonung von Fehlern. Die Entwicklung einer offenen Fehlerkultur war damals eine bedeutende Entwicklung. Diese hat sich weiterentwickelt zu einer Sicherheitskultur, in deren Zentrum der Fokus auf positive Aspekte gelegt wird: Sich zu verbessern/zu wachsen/zu lernen ist menschlich und trägt unendlich viel zu einer entsprechenden Zunahme an Sicherheit bei.

Entwicklungen in der Luftfahrt

Die Luftfahrt wurde mit zunehmendem technischen Fortschritt in der Vergangenheit immer sicherer, jedoch kam es in den 1970er-Jahren zu mehreren dramatischen Unfällen, die alle auf menschliches Versagen zurückzuführen waren (1972: Everglades, 1977: Teneriffa, 1978: Portland). Folgerichtig untersuchte daraufhin die NASA in Kooperation mit der US-amerikanischen Luftaufsichtsbehörde FAA (Federal Aviation Administration) den Einfluss der Cockpit-Zusammenarbeit.

Dies war der Ausgangspunkt für die Entwicklung des Crew Ressource Management-Konzeptes. Heute sind entsprechende interprofessionelle Schulungen im Bereich der Luftfahrt für alle Beteiligten jährlich verpflichtend. Lufthansa schult ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht nur in technischen und prozeduralen Fähig- und Fertigkeiten (technische Grundlagen des Flugzeugtyps, der Flugphysiologie, Simulation verschiedener Landemanöver etc.). Zusätzlich werden alle Lufthansa-Mitarbeiter im Bereich interpersoneller Kompetenzen geschult, um den Faktor Mensch bewusst werden zu lassen und um den Mitarbeitern Strategien und Werkzeuge zu vermitteln, mit möglichen aufkommenden Problemen umzugehen und diese gar nicht erst zu Fehlern, kritischen Situationen oder sicherheitsrelevanten Vorfällen kommen zu lassen (siehe Abb. 2). Somit kann im Bereich der Luftfahrt eine bereits sehr hohe Sicherheit weiterhin garantiert bzw. diese sogar konsekutiv noch gesteigert werden. Mittlerweile gibt es zunehmend mehr Branchen mit Hochleistungscharakter, die sich wenig bis keine Fehler erlauben dürfen und die ihre Mitarbeiter ebenfalls in derartigen obligaten Trainingskonzepten schulen (z. B. Atomkraftwerke).

Umsetzung im Bereich der Medizin

Um eine qualitativ hochwertige Patientenversorgung zu gewährleisten, werden regelmäßige Trainings und Schulungen für das medizinische Fachpersonal empfohlen. Im Sektor Medizin gibt es vielfältige Trainingsmaßnahmen in technischen und prozeduralen Fähig- und Fertigkeiten (Atemwegsmanagement-, Sonographiekurse, Reanimationstrainings etc). Allerdings besteht noch deutlicher Schulungsbedarf hinsichtlich des Bereiches der interpersonellen Kompetenz bzw. „non-technical skills“. Hierbei stehen Themen im Fokus, die bisher wenig bis nicht geschult werden: eine gelingende Kommunikation in interdisziplinären und interprofessionellen Teams, Teamwork unter Leitung eines Teamleaders mit entsprechenden Führungsqualitäten, eine strukturierte und fundierte Entscheidungsfindung sowie eine situative Aufmerksamkeit und ein professioneller Umgang mit Stress im Fokus. Genau dies stellen die Themen dar, die mit der Entstehung von Fehlern im medizinischen Umfeld häufig in Verbindung gebracht werden [4].

Ein Bewusstsein, dass das Gesamtsystem Medizin aus den Bereichen Technologie und der (Gesamt-)Organisation, aber auch den einzelnen beteiligten Menschen besteht, muss entstehen und täglich gelebt werden. Nur auf diese Weise können wir eine gelingende Sicherheitskultur auch im Bereich der Medizin entstehen lassen. Als beispielhaftes Schulungskonzept hat Lufthansa Aviation Training (LAT) zusammen mit der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU) ein interdisziplinäres und interprofessionelles Fortbildungsangebot für medizinisches Fachpersonal entwickelt: Interpersonal Competence (siehe Abb. 3 & Foto) [5]. Hierbei steht die nachhaltige, praxisorientierte Vermittlung von Wissen, Fähig- und Fertigkeiten aus dem Bereich „Human Factors“ im Mittelpunkt. Langfristiges Ziel ist damit auch die Erhöhung der Patientensicherheit im medizinischen Umfeld. Ein abgestuftes Kurskonzept richtet sich an verschiedene Ausbildungs- bzw. Verantwortungsstufen, so dass sowohl für Berufsanfänger wie auch Führungskräfte individuell wichtige Schwerpunkte gesetzt werden können. Themenschwerpunkte sind unter anderem das gelingende Arbeiten im Team, Kommunikation (und Führung), Entscheidungsfindung sowie Workload- und Konfliktmanagement.

Die BG Kliniken haben vor fast drei Jahren damit begonnen, einen großen Anteil ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mithilfe dieses Curriculums zu schulen: von der Entwicklung in der Luftfahrt lernen und mit medizinischer Expertise agieren. Die Betonung interpersoneller Kompetenz und deren Einbezug im alltäglichen Arbeiten sind ein entscheidender Schritt zur Kompetenzerweiterung der Mitarbeiter und letztendlich der Steigerung der Patientensicherheit.

Fazit

Der medizinische Arbeitsalltag ist durch eine hohe Fehlerhäufigkeit geprägt, auch wenn uns dies oftmals nicht bewusst ist. Dabei sind Fehler nicht gleichbedeutend mit sicherheitsrelevanten Vorfällen. Diese können sich allerdings im Verlauf ohne rechtzeitiges Erkennen und Einleiten von Gegenmaßnahmen entwickeln. Stets sind mögliche Ursachen für die Entstehung von Fehlern zu eruieren – alle Einflussfaktoren wie u. a. Zeitdruck, Personalmangel müssen berücksichtigt werden. Eine übergeordnete Relevanz für die Sicherheit weist der „Human Factor“ auf – für eine optimale Patientenversorgung bedarf es neben technischen und prozeduralen Fähigkeiten zwingend auch interpersoneller Kompetenz. Ein Umdenken im medizinischen Arbeitsalltag sowie in der Aus-, Fort- und Weiterbildung ist zwingend notwendig. Übergeordnetes Ziel des medizinischen Fachpersonals muss die Implementierung einer Sicherheitskultur im medizinischen Arbeitsalltag zugunsten der uns anvertrauten Patienten sein.

Ansprechpartner: PD Dr. med. Matthias Münzberg, Leiter Ressort Medizin BG Kliniken Ludwigshafen, Leiter Centrum für interdisziplinäre Rettungs- und Notfallmedizin (CiRN), BG Klinik Ludwigshafen, E-Mail: matthias.muenzberg@bgu-ludwigshafen.de

Mögliche Interessenskonflikte: Susanne Frankenhauser und Matthias Münzberg sind als Trainer in die Fortbildungsveranstaltungen eingebunden. Martin Egerth ist als Senior Product Manager Human Factors Training, Psychologe bei Lufthansa Aviation Training angestellt.

Die Literaturhinweise finden Sie in der PDF-Version der aktuellen Ausgabe auf unserer Website unter https://www.laekh.de/heftarchiv/ausgabe/2020/mai-2020