Gedanken in Krisenzeiten

Der Begriff der Krise ist seit ca. zwei Monaten in aller Munde. Wir benutzen dieses Wort meist, um eine schwierige Situation zu bezeichnen. Eine der ursprünglichen Bedeutungen (im Griechischen) von „Krise“ ist: Entscheidung. Kritische Situationen sind solche, in denen Entscheidungen getroffen werden müssen und/oder es sich entscheidet, welchen Verlauf eine Entwicklung nimmt.

Beide Seiten der Krise spüren wir momentan. Einerseits handelt es sich um ein Geschehen, welches wir kaum wirklich verstehen, in seiner Entwicklung nicht absehen können und dem wir uns ziemlich hilflos ausgeliefert fühlen. Auf der anderen Seite werden von uns Entscheidungen erwartet oder sogar verlangt, beispielsweise ob und wenn ja wie wir als Psychotherapeuten mit unseren Patienten in der Krise weiterarbeiten.

Diese Entscheidungen treffen wir mehr aus einem Vertrauen und einer Hoffnung heraus als aus Wissen und Erfahrung. Für Mitglieder einer demokratischen und aufgeklärten Gesellschaft ist eine solche Situation eine Herausforderung, für manche sogar eine Zumutung – gilt doch sonst der Grundsatz, dass Handlungen und Entscheidungen vernünftig und klar begründet, somit auch für Bürgerinnen und Bürger nachvollziehbar sein müssen. Nicht-Wissen und Unsicherheit, gerade bei Wissenschaftlern und politischen Entscheidungsträgern, passen nicht in das Weltbild der meisten Menschen und machen vielen Angst .

In Zeiten von Corona gelten viele Dinge plötzlich nicht mehr, deren Bedeutung für das tägliche Leben und das seelische Gleichgewicht durch ihr Fehlen jetzt besonders spürbar werden: zum Beispiel das selbstverständliche Beieinandersein, die körperliche Berührung, die Erfahrung und das Wissen, dass vom anderen keine Gefahr ausgeht; aber auch drohende Gefahren wie Arbeitsplatzverlust oder Verlust der wirtschaftlichen Existenzgrundlagen.

Was bedeutet das für die psychotherapeutische Arbeit?

In allen psychotherapeutischen Verfahren ist eine stabile und verlässliche Beziehung unabdingbare Grundlage für den Erfolg der Behandlung. Dabei hat die leibhaftige Beziehung in den psychoanalytisch begründeten Verfahren eine besondere Bedeutung, weil die konkreten Erfahrungen in der Patient-Psychotherapeut-Beziehung wesentlich zum Verstehen der Psychodynamik des Patienten genutzt werden.

Man kann es auch so formulieren: Auf der Bühne der therapeutischen Beziehung wiederholen Patienten diejenigen lebensgeschichtlichen Erfahrungen, die zu ihrer aktuellen Problematik geführt oder beigetragen haben, und machen sie auf diese Weise einer Behandlung zugänglich. Aus diesen Gründen ist es so wichtig, dass unsere Patienten diesen konkreten Beziehungsraum in einer Psychotherapie zuverlässig und sicher zur Verfügung gestellt bekommen und nutzen können. Dies gilt sowohl für Patienten in Einzeltherapie als auch in Gruppentherapie.

Die Sorge – bis hin zur Angst, sich gegenseitig anzustecken, kann zu Entscheidungen führen, die für nicht wenige Patienten eine Veränderung oder sogar den Verlust des therapeutischen Beziehungsraumes mit sich bringen. Wie einzelne Psychotherapeuten mit dieser Situation umgehen, wie sie die eigene Gefährdung und die ihres Gegenübers einschätzen, was sie als angemessene Reaktion empfinden, hängt nicht nur von den jeweils aktuellen, oft unterschiedlichen und widersprüchlichen Informationen über die Corona-Krise ab. Auch die medizinische Vorbildung, d.h., ob der Psychotherapeut Arzt oder Psychologe ist, scheint nicht so entscheidend wie die persönlichen Einstellungen und Gefühle bezüglich Gefährdung und Sicherheit. Die Entscheidungen, die der behandelnde Psychotherapeut trifft, werden vom Patienten wiederum auf seine eigene Weise verarbeitet und beeinflussen den weiteren Behandlungsprozess.

Das Spektrum der Reaktionen auf die Corona-Krise ist breit. So gibt es Psychotherapeuten, die schon ganz zu Beginn der Krisenzeit ihre Praxen für alle Patienten geschlossen haben und seitdem nur noch Behandlung über Telefon oder Videoprogramme anbieten. Andere halten die empfohlenen Maßnahmen (Hygiene und Abstand betreffend) für ausreichend und sehen ihre Patienten weiterhin in ihren Praxen. Manche Therapeuten sitzen ihren Patienten mit einem durchsichtigen Visier gegenüber, andere installieren eine durchsichtige Plexiglaswand zwischen sich und den Patienten, ein Behandler gab die Anfertigung eines – nur oben offenen – Plexiglaskastens in Auftrag, in dem er nun während der Arbeit sitzt.

Welche Gefühle lösen solche Schutzvorrichtungen in Patienten aus? Welche Auswirkungen haben sie auf die therapeutische Beziehung? Erschwerend kann für Patienten in einer solchen Situation das Wissen hinzukommen, dass andere Therapeuten die Lage anders einschätzen, sich weniger bedroht fühlen und andere, weniger einschränkende Lösungen finden.

Durch die oben beschriebenen Veränderungen können unterschiedliche Fantasien und Gefühle geweckt werden. So kann zum Beispiel der Therapeut das Bedürfnis haben, sich (nicht nur auf gesundheitlicher Ebene) vor den aggressiven Gefühlen/Impulsen des Patienten zu schützen oder umgekehrt den Patienten vor seinen (des Therapeuten) eigenen aggressiven Impulsen.

Auch im Therapeuten entstehen Fantasien (z. B. Beschädigungsängste, Fantasien über die eigene Unverwundbarkeit, Unsicherheit bezüglich „richtiger“ Entscheidungen), die mit den Fantasien / Gefühlen des Patienten interagieren. Schutzmaßnahmen sind sinnvoll und notwendig, aber sie beeinflussen bzw. erschweren in teilweise erheblicher Weise die Behandlung.

Für Patienten und Therapeuten kann es schwierig sein, zwischen realer Bedrohung durch Ansteckung und der Tendenz, sich einem schwierigen therapeutischen Prozess zumindest für eine gewisse Zeit zu entziehen, zu unterscheiden. In der aktuellen Ausnahmesituation ist es schwerer möglich, den neurotischen Anteil an diesen Entscheidungen und Verhaltensweisen zu erkennen und zu bearbeiten.

Wir alle machen in dieser Zeit Erfahrungen, die teilweise bis vor kurzem unvorstellbar erschienen. Manche davon rühren bei allen Beteiligten, bei Patienten und Therapeuten, an schmerzliche lebensgeschichtliche Ereignisse, zum Beispiel an Gefühle von Bedrohung, Verlassenheit, Ablehnung, Enttäuschung, und führen – neben den zusätzlichen Belastungen im täglichen Leben – zu existenzieller Verunsicherung und Angst. Eine noch größere Belastung stellt die Situation für viele Kinder dar. Nicht nur als Psychotherapeuten, sondern auch als betreuende Bezugspersonen, stoßen wir dabei schnell an unsere Grenzen.

Die Entscheidungen, die alle Therapeuten in der Zeit der Corona-Krise für sich und ihre Praxis treffen, führen zu einer mehr oder weniger erheblichen Beeinträchtigung des psychotherapeutischen Prozesses. Eine wichtige, aber auch schwierige Aufgabe für Psychotherapeuten ist, die eigenen Entscheidungen möglichst gut daraufhin zu überprüfen, inwieweit sie durch eine mögliche übertriebene Ängstlichkeit oder unangemessene Sorglosigkeit mitbedingt sind. Und Psychotherapeuten müssen auch den Patienten ermöglichen, zu subjektiv guten Entscheidungen zu kommen und diese, gerade in diesen besonderen Zeiten, respektieren. Ganz wichtig ist, dass Therapeuten weder für sich selbst noch für ihre Patienten Verhaltensweisen (Verhaltensanweisungen) übernehmen, hinter denen sie nicht stehen, sondern dass sie nur unter Bedingungen arbeiten, die für sie ausreichend stimmig sind und die sie verantworten können. Patienten spüren und brauchen eine solche Stimmigkeit. Manche äußern sich sehr dankbar, wenn sie weiterhin die Möglichkeit haben, in die Praxis zu kommen. Andere Patienten, denen der Besuch in der Praxis aus unterschiedlichen Gründen, meistens aus Angst, sich zu infizieren, nicht möglich erscheint, wissen zu schätzen, wenn sie durch technische Hilfsmittel wie Telefonate oder Videokonferenzen einen therapeutischen Kontakt aufrechterhalten können. So können manche neue Erfahrungen gemacht werden, die dadurch etwas Gutes haben, dass sie in dieser schwierigen Zeit überhaupt ermöglicht werden und gelingen.

Jeder psychotherapeutische Prozess ist durch Therapeut und Patient geprägt und daher immer sehr individuell. Unter den aktuellen Bedingungen kann besonders der Rahmen der Behandlung (das Setting) nicht mehr so wie in normalen Zeiten aufrechterhalten werden. Individuelle Prägung bedeutet aber nicht Beliebigkeit – die Gestaltung des Behandlungsrahmens muss sich immer an der psychotherapeutischen Aufgabe orientieren. In diesen Zeiten benötigen unsere Patienten besonders ausreichenden Halt und Sicherheit. Besonders wichtig ist auch für die Teilnehmer von Gruppen, wenn es in diesen Zeiten gelingt, regelmäßig gemeinsame Sitzungen abzuhalten, und so eine Verbundenheit und Verlässlichkeit zu spüren.

Als Psychotherapeuten müssen wir versuchen, auch unter besonderen Bedingungen unseren Patienten in guter Weise zur Verfügung zu stehen. Das kann besser gelingen, wenn wir auch die eigenen Begrenzungen und Beschränkungen, bis hin zur eigenen Unsicherheit und Verletzlichkeit, anerkennen.

Dr. med. Meinhard Korte, Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie Allgemeinmedizin, Psychoanalytiker – Gruppenanalytiker, Hanau, E-Mail: kontakt@praxis-dr-korte.de

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