Telemedizin – nichts Neues unter der Sonne

In jüngster Zeit erleben wir einen Hype um Digitalisierung und Telemedizin, als hätte uns aus heiterem Himmel wahrhaftig der Fortschritt ereilt. Subvention auf allen Ebenen, Narrenfreiheit, Goldgräberstimmung. Bei etwas tiefschürfender Betrachtung der Dinge wird uns gewahr, dass wir zwar nicht zweimal in den selben Fluss treten können, aber es auch nichts Neues unter der Sonne gibt.

Bereits vor 90 Jahren gab es in Kanada einen Gesundheitsbeamten namens Dr. Parey, der als „Rundfunkarzt“ im Staatsdienst seine Notfälle im Polarkreis aus einer Entfernung von 3.000 bis 4.000 Kilometern mittels Funkkontakt „telemedizinisch“ versorgte. Seinerzeit technisch möglich und sicher in der Sache notwendig. Der Bericht aus dem Groß-Gerauer Kreisblatt vom 21. Juni 1932 ist hier abgedruckt.

Ob und inwieweit diese Art Technologie, erweitert um Elemente wie Bildtelefonie, Drohnentechnik und Robodoc, für unseren Alltag heutzutage im Ballungsraum Mitteleuropa eingeführt und routinemäßig angewendet werden sollte, darüber möge man sich in Ruhe und frei von Interessen Gedanken machen.

Michael Andor, Präsidiumsmitglied der LÄKH, Facharzt für Allgemeinmedizin, Groß-Gerau

Aus dem „Groß-Gerauer Kreisblatt“ vom 21. Juni 1932

Hier folgt der Text des historischen Artikels (Auszug siehe Foto) in Frakturschrift transkribiert:

„Briefliche Heilungen, Kuren durch gedankliche Fernwirkung – das hat man schon gekannt, und die Fachmedizin hat nicht viel von ihnen gehalten. Jetzt haben wir die Behandlung durch Rundfunk. Und zwar sind es nicht etwa Kurpfuscher, die sich der Welle bedienen, sondern es handelt sich um eine ganz offizielle Ausnützung dieser neuesten Erfindung. Der Gesundheitsbeamte des kanadischen Amtes für Pensionen und Hygiene, Dr. F. S. Parey, ist der Rundfunkarzt. Seine Patienten sind 3000 bis 4000 Kilometer von ihm entfernt. Er hört ihre Klagen durch Rundfunk – stellt seine Diagnosen durch Rundfunk, verschreibt durch Rundfunk Heilmittel – nur die Leichenschau übt er nicht durch Rundfunk aus.

Die Vermittler seiner ärztlichen Anweisung sind die Beamten, die die sieben Stationen des Marineamtes in der Polarzone bedienen. Die Einrichtung besteht bereits seit drei Jahren. Vor dieser Zeit waren die Beamten, die Händler, Jäger, Eskimos im hohen Norden auf die Heilkraft der Natur angewiesen. Als dann die Sendestationen eingerichtet wurden, funkten die Beamten bald Anfragen an die Hauptstation in Ottawa, und so entwickelte sich allmählich ein Auskunftsdienst, der nunmehr verstaatlicht worden ist und für den hohen Norden sich als außerordentlich wertvoll herausstellt. Natürlich können funklich keine chirurgischen Operationen ausgeführt werden, aber die Sendestationen sind mit Apotheken versehen und so sind die Funker in den Stand gesetzt, den Hilfesuchenden die Medizin auszufolgen, die ihnen Dr. Parey verordnet hat.

In komplizierteren Fällen wird die ,Behandlung’ laufend fortgesetzt; der Arzt erhält täglich, wenn nötig mehrmals, Bericht über den Verlauf der Krankheit und trifft seine entsprechenden Anordnungen. Das Ordinationszimmer des Dr. Parey ist ein kleiner Raum mit Mikrophon und der entsprechenden Sendeanlage; der Aktionsradius dieser drahtlosen ärztlichen Station ist von ungeheurem Ausmaß; die ,Praxis’ Dr. Parey erstreckt sich über Tausende von Quadratmeilen, und es heißt, daß der Arzt alle Hände voll zu tun hat, um die Dutzenden von Anfragen zu beantworten, die täglich drahtlos an ihn gelangen.

Ein Fall wird als besonders interessant verzeichnet: Der Matrose eines Walfischfängers wurde bei schwerem Sturm in das Speigat, das runde Lock an der Verdeckseite, geschleudert, und erlitt schwere Verletzungen. Die von dem Walfischfänger aus unterrichtete Küstenstation gab den ,Fall’ an Dr. Parey weiter und dieser übernahm die Behandlung mit dem Erfolg, daß der Matrose gerettet wurde.“

Artikel „Der Rundfunkarzt“: Die erste Spalte des Artikels als „Faksimile“ dargestellt. Die Transkription ist nebenstehend abgedruckt.