Sammlung Neess im Museum Wiesbaden

Wer durch Wiesbaden schlendert, begegnet Zeugnissen des Jugendstils beinahe auf Schritt und Tritt. Neben frühen Einzelbeispielen der Architektur finden sich seine floralen, ornamentalen, figuralen und sezessionistischen Formen an unzähligen Gebäudefassaden, insbesondere im Dichter- und im Rheingauviertel. Weitere Beispiele sind das ehemalige Palast-Hotel, oder das Hansa-Hotel, dessen Restaurant-Café in den zwanziger Jahren beliebter Treffpunkt der Künstler Alexej von Jawlensky, Otto Ritschl, Adolf Presber, Josef Vi-necký, Edmund Fabry und des Sammlers Heinrich Kirchhoff war. Als ein Kleinod des Jugendstils gilt das Brunnenhaus der Drei-Lilien-Quelle, ein kleiner, im sezessionistischen Stil gestalteter Raum an der Rückseite des Hotels Schwarzer Bock im Zentrum der hessischen Landeshauptstadt. Nur einen Spaziergang davon entfernt, zeigt das Museum Wiesbaden seit Juni 2019 die Sammlung „Jugendstil und Art Nouveau“ von Ferdinand Wolfgang Neess als dauerhafte Präsentation. Es war an der Zeit, dass die vom Jugendstil geprägte Stadt sich damit auf der Karte der europäischen Jugendstilstädte einreihte.

Fließende Formen

Wie ein Blütenkelch schimmert eine Tiffany-Vase in sanften Rot-, Lila- und Gelbtönen. Entrückt neigt das von einer Rosengirlande geschmückte „Powolny-Girl“ seinen Kopf zur Seite. Inspirationsquell der vor dunkelblauem Hintergrund arrangierten Möbelstücke aus edlen Hölzern ist die Natur: Die Exponate gehören zu den rund 700 Objekten der Wiesbadener Dauerausstellung, der Schenkung F. W. Neess, die einen Querschnitt durch alle Gattungen des Jugendstils zeigt und beispielhaft die hohe Qualität der Kunstproduktion des Fin de Siècle zwischen Jugendstil und Symbolismus vor Augen führt. Fließende Formen, florale Ornamente und symbolische Aussagekraft waren Kennzeichen der revolutionären Kunstrichtung, die ihre Blüte in der Zeit von 1890 bis 1910 erlebte und international als „Art Nouveau“ bekannt wurde. Ihre Wurzeln hat sie in der „Arts and Crafts“-Bewegung, die Mitte des 19. Jahrhunderts von dem Künstler William Morris und dem Kunstkritiker John Ruskin als Antwort auf die zunehmende Industrialisierung und den damit verbundenen, qualitativen Niedergang des Handwerks angestoßen wurde.

Ihren Ausdruck fand die neue Kunstrichtung in der Malerei und Bildhauerei, in Architektur und Möbeldesign sowie in Schmuck- und Glaswaren. Ziel war es, mit den Mitteln der Kunst Antworten für eine utopische, ästhetisch bestimmte Gesellschaftsform zu geben, aber auch Kunst und Ästhetik in das alltägliche Leben zu integrieren. In der Wiesbadener Sammlung sind ganze Möbelensembles von Émile Gallé, Hector Guimard und Louis Majorelle sowie Bernhard Pankok und Richard Riemerschmid erhalten. Außerdem eine Fülle hochwertiger Glasobjekte wie Vasen, Schalen und Lampen.

Blick mit Narzissen

Ihr Name geht auf den eitlen Narziss in der griechischen Mythologie zurück: Zwei Blüten der Narzisse, Symbol für tiefes Verlangen und Zuwendung, strahlen leuchtend aus dem in dunkle Farben getauchten „Bildnis mit gelben Narzissen“ von Oskar Zwintscher hervor. Zwintscher, der als Professor an der Kunstakademie Dresden unterrichtete, war ein frühes Mitglied des Deutschen Künstlerbundes und nahm schon an dessen erster Jahresausstellung 1904 in München mit einem Ölgemälde in symbolistischem Jugendstil teil. Der durchdringende Blick und die sinnlich vollen Lippen der unbekannten Schönen, die er in dem Bildnis mit Narzissen portraitierte, bilden einen geheimnisvollen Kontrast zu dem hochgeschlossenen Gewand und ihrer ätherisch anmutenden Hand (siehe Titelbild).

In der Wiesbadener Dauerausstellung sind mehr als 90 Gemälde, Pastelle und Aquarelle von Künstlern aus ganz Europa zu sehen, darunter Arbeiten von Gustave Moreau und seinem Schüler Edgar Maxence sowie von Alphonse Osbert, die den französischen Symbolismus repräsentieren. Den deutschen Symbolismus und Jugendstil vertreten Gemälde von Franz von Stuck, Heinrich Vogeler, Ludwig von Hofmann. Zu der Sammlung zählen außerdem Werke namhafter Präraffaeliten wie Edward Burne-Jones, Evelyn De Morgan und John Melhuish Strudwick aus Großbritannien. Skulpturen von Alfons Mucha und George Minne ziehen in ihren Bann.

Ein Gesamtkunstwerk

Die Besonderheit der von Ferdinand Wolfgang Neess über vier Jahrzehnte zusammengetragenen und der Stadt Wiesbaden 2017 als Schenkung übereigneten Privatsammlung liegt in ihrem internationalen Charakter mit deutschen, französischen und österreichischen Exponaten, die zu einem Gesamtkunstwerk des Jugendstils komponiert wurden. Ein Teil der Objekte war bei der Weltausstellung in Paris 1900 zu sehen. In Wiesbaden werden sie unter anderem in einem kleinen Kino am Ende des Rundgangs durch originale Film- und Bildaufnahmen eingerahmt.

Museum Wiesbaden, Friedrich-Ebert-Allee 2, 65185 WiesbadenInternet: www.museum-wiesbaden.de, 1. Samstag im Monat Eintritt frei