Erfahrungsbericht einer Ärztin in Weiterbildung Allgemeinmedizin

Der Gedanke, irgendwann Hausärztin auf dem Lande zu sein mit Familie, in einem idyllischen Häuschen, in einem Dorf mit netten Menschen, einem Bäcker, der einen schon kennt und weiß, welches Brot man immer kauft, Patienten, die einen willkommen heißen und glücklich sind, dass man ihnen hilft und dementsprechend Respekt und Wertschätzung entgegenbringen, dieser Gedanke gefällt mir sehr gut. Ich bin eine ungebundene, einunddreißigjährige Ärztin im fünften Jahr der Weiterbildung zur Fachärztin für Allgemeinmedizin und es tut mir leid, dass betagte Patienten in unterversorgten Gebieten gezwungen sind, zum Teil kilometerweit zu fahren, um ärztlich versorgt zu werden. Naive Vorstellung? Ja, vielleicht.

Selbstverständlich frage ich mich aber auch, ob es so toll ist, der einzige Arzt weit und breit zu sein, möglicherweise eine eingeschränkte Privatsphäre zu haben und viele Hausbesuche machen zu müssen, da es bekanntermaßen mehr alte als junge Menschen auf dem Land gibt. Zusammengefasst zeigt sich bei mir demnach absolute Unwissenheit bezüglich der Landarzttätigkeit. Was sind also Klischees und wie sieht die Realität wirklich aus?

Den ersten Kontakt zu der Organisatorin der sogenannten „Landtage“, Jana Groth, hatte ich in einer Pause zwischen zwei Seminaren des Kompetenzzentrums Weiterbildung Hessen in Gießen. Es ging um eine freiwillige Fragerunde unter Ärztinnen und Ärzten in Weiterbildung, die sich im Vorfeld als „Land-interessiert“ meldeten. Thema: „Was wünschen Sie sich für die Arzttätigkeit auf dem Land? Und welche Bedenken haben Sie?“ – Es sprudelten zahlreiche Ideen aus den Teilnehmenden. Manche Vorschläge waren eventuell Wunschvorstellungen und schwer umsetzbar, aber dennoch... träumen darf man ja. Aber auch Sorgen wurden geäußert, ziemlich ähnlich zu meinen, die ich bereits oben erwähnte.

Nach nur wenigen Monaten wurden bereits Flyer zu den „Landtagen“ auf den Seminaren verteilt und E-Mails vom Kompetenzzentrum versandt. „Projekt Land(-arzt)-Tag Odenwaldkreis“ hieß es auf dem Flyer. Das Angebot hörte sich verlockend an: Teilnahme kostenlos, die komplette Familie ist willkommen und ein Übernachtungsangebot gibt es auch. Also genau richtig, um einen echten Einblick in die Landarzttätigkeit zu bekommen und endlich Vorurteile abzubauen! Da mein Weiterbilder sehr engagiert ist und auch dieses Projekt unterstützt, war meine Freistellung unproblematisch. Ich erhoffte mir einen Rundum-Kennenlerntag der Region, der ärztlichen Kollegen und ihrer Praxen sowie deren Arbeitsweisen.

Der Tag war top organisiert, das Programm recht umfassend: beginnend mit einem Shuttle-Service aus Michelstadt nach Beerfelden ins GesundheitsVersorgungsZentrum (GVZ) Oberzent. Empfangen wurden wir drei teilnehmenden Ärztinnen von einer großen Runde:

von Prof. Dr. med. Erika Baum (ehem. Präsidentin der DEGAM) über Patricia Kaczmarek, stellvertretend für die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Hessen, zu den beiden Kreisbeigeordneten für ländlichen Raum und Ehrenamt, Dr. Michael Reuter und Anni Resch, sowie Dr. med. Ulrich Falk als Leiter des Gesundheitsamtes, Dr. med. Alwin Weber (zweiter Vorsitzender der GesundheitsVersorgungsKooperation Odenwald) und schließlich Elke Kessler, Geschäftsführerin einer Art Unternehmensberatung bzgl. Patientenführung, Praxismanagement und -marketing. Außerdem waren einige Ärzte aus der Umgebung anwesend, die sich sehr über unsere Teilnahme und somit unser Interesse an der Region freuten.

World Café im GVZ Oberzent

Wir wurden ans Kopfende des Tisches gesetzt. Ich fühlte mich ein wenig wie auf einem Silbertablett; stets mindestens ein Paar erwartungsvolle Augen auf uns gerichtet. Nach der Vorstellungsrunde folgte das sogenannte „World Café“ mit vier Informationsständen zu den Themen Landarzttätigkeit, Versorgungsnetzwerke, finanzielle Unterstützungsmöglichkeiten und Vereinbarkeit von Beruf und Familie bei einem kleinen Mittagssnack.

Aufgrund der geballten Informationsflut und den angeregten Gesprächen kamen wir aber leider kaum zur Stärkung. Während mich neben der medizinischen Infrastruktur vor allem Freizeitangebote interessierten im Vergleich zur Stadt und ihrem kulturellen und kulinarischen Angebot, wollten meine Kolleginnen hingegen mehr zu Jobmöglichkeiten für ihre Partner, Kindertagesstätten und Schulen sowie Immobilienpreise erfahren. Eben das, was uns jeweils in unseren aktuellen Lebenslagen wichtig ist. Da die Zeit drängte, konnten wir von Frau Kaczmarek seitens der KVH nicht persönlich beraten werden. Sie händigte uns aber ein recht umfangreiches Paket mit hilfreichen Broschüren bezüglich Unterstützungsangeboten bei Praxisgründung oder -übernahme aus.

Besuch im Kreiskrankenhaus

Der durchgetaktete Tag setzte sich dann fort mit der Besichtigung des Hausarztzentrums im GVZ durch Bernhard Wagner als Beispiel einer gelungenen Praxisführung durch die Unterstützung von ausgebildeten und spezialisierten Medizinischen Fachangestellten. Weiterhin führten uns Dr. med. Lucia Weigand-Honecker und Dominik Dicks durch das Ärztezentrum in Bad König, wo elf Ärzte im Konzept einer Gemeinschaftspraxis erfolgreich zusammenarbeiten. Zu guter Letzt besuchten wir das Kreiskrankenhaus in Erbach unter der Führung von Dr. med. Michael Gomer, Chefarzt der Inneren Medizin, um schließlich die gute Organisation des Weiterbildungsverbundes Odenwaldkreis und dessen Ausbildungsmöglichkeiten kennenzulernen. Der Ausblick vom Hubschrauberlandeplatz in die Weiten des Odenwaldes bei kaiserlichem Wetter bestärkte die sympathische und hingabevolle Präsentation aller Beteiligten an diesem Tag.

Geselliger Ausklang

Und wie der Zufall es wollte, traf ich einen ehemaligen Arbeitskollegen aus dem Krankenhaus, in dem ich meine Weiterbildung einst begann. Es fiel mir wieder ein: Er verließ damals das Krankenhaus nach seiner Facharztprüfung, um in die Hausarztpraxis seines Vaters einzusteigen – im Odenwald offensichtlich! Sollte dies etwa das Zeichen dafür sein, dass es auch junge Leute auf dem Land gibt? Alte Bekannte statt allein unter Fremden... Wie klein die Welt doch am Ende ist. Irgendwie schön.

Nach einem langen, aber ereignisreichen Tag fanden wir zum abschließenden Abendessen in einer urigen Gaststätte in Michelstadt zusammen. Ich erwartete eine entspannte Atmosphäre mit der Möglichkeit, all die Eindrücke mit meinen angereisten Kolleginnen Revue passieren zu lassen. Aber es sollte sich eher um einen geselligen Erfahrungsaustausch mit den regionalen Hausärzten inklusive Praxisbörse handeln. Gesättigt von den Odenwälder Spezialitäten und etwas erschlagen von den vielen neuen Erkenntnissen fuhr ich am Ende des Tages zurück nach Frankfurt. Gleichzeitig war ich aber auch froh darüber, dass ich an diesem Land(-arzt)-Tag Odenwaldkreis teilnehmen durfte und mir ein eigenes Bild machen konnte.

Insgesamt war es sicherlich unter Anderem der niedrigen Teilnehmerzahl geschuldet, dass ich diesen Tag als ziemlich anstrengend empfand. Mögliche Gründe für das geringe Interesse: Vielleicht ist das Timing dieses Angebots in der Weiterbildung zu früh, sodass ein Wechsel in die Praxis bei vielen noch in ferner Zukunft liegt? Oder haben fortgeschrittene „Alt-Assistenten“ bereits die nächste Stelle in Aussicht? Lohnt sich eventuell für manche die Freistellung für diesen Tag nicht, wenn es keinen weiteren Benefit wie beispielsweise eine Fortbildung zu medizinischen Themen gibt? Oder fehlt der persönliche Bezug zur vorgestellten Region, beispielsweise dort lebende Eltern oder die Nähe zum Studienort?

Trotz der gefühlten Reizüberflutung war für mich der Blick hinter die Kulissen der Landarzttätigkeit wichtig und aufschlussreich. Mir fiel zum Beispiel auf, wie gut die Kooperation im „Kleinen“ zwischen den Ärzten (ob Anbieter oder Interessent), dem Kompetenzzentrum Weiterbildung Hessen, der KVH, der Politik, dem Gesundheitsamt und einer Unternehmensberatung funktionieren kann. Es wäre schön, wenn solch eine Zusammenarbeit auch auf Bundeslandebene gelingen würde, damit eine patientenzentrierte Versorgung mit weniger Bürokratie für Ärzte möglich ist. Durch die Erzählungen der erfahrenen Landärzte wurde mir bewusst, welche Schwierigkeiten es teilweise für sie gibt, wie zum Beispiel Regresse.

Ich muss gestehen, dass ich während der Weiterbildung wenig Berührungspunkte mit diesem Thema hatte, aber wenn man etwas dazu hörte oder las, war es negativ. Beispielsweise gehen Landärzte verglichen zum Gesamtdurchschnitt, gemessen an allen Hausärzten, zu häufig auf Hausbesuche und müssen aufgrund bürokratischer Reglements Ausgleichsgelder zahlen. Dass der Bedarf an Hausbesuchen auf dem Land vielleicht höher ist und Landärzte das nicht aus Langeweile so oft tun (denn der Zeitaufwand ist bei ländlichen Wegen nicht zu unterschätzen), sondern sich das ärztliche Handeln am Patienten orientiert, scheint bei dieser Rechnung nicht bedacht. Unnötige Hürden, die das Arztdasein auf dem Land erschweren. Wie sind eigentlich diese Hürden entstanden? Arbeiten hier etwa Ärzte gegen Ärzte? Und welche Rolle spielen eigentlich die Krankenkassen dabei? So will man junge Ärzte aufs Land locken?! Naja... Gut nur, dass durch den Einsatz von KV und Hausärzteverband dieser Missstand 2018 behoben wurde.

Hausärzteverband? Noch eine Institution im intransparenten Wirrwarr von Kompetenzzentren, Weiterbildungsverbünden, Koordinierungsstellen und letztlich der Landesärztekammer. Wer welche Zuständigkeiten innehat, ist für Ärzte in Weiterbildung oft unübersichtlich. Ich beispielsweise stehe kurz vor der Facharztprüfung und suche eine Anstellung in einer ländlichen Praxis, um im Vergleich zu meinen bisherigen Erfahrungen in einer städtischen Praxis neue Kenntnisse und Fähigkeiten zu erwerben. Aber an wen wendet man sich am besten? Alle Organisationen wissen irgendwie alles; jede bietet Seminare und Beratungsgespräche an, aber man wird das Gefühl als Außenstehender nicht los, dass sie untereinander vielmehr konkurrieren statt zusammenzuarbeiten. Schade eigentlich. Aber vielleicht ist das auch nur mein subjektives Empfinden.

Am Beispiel des Projektes im Odenwaldkreis wird klar, dass anscheinend Fortschritt nur realisierbar ist, wenn alle an einem Strang ziehen. Am wichtigsten sind jedoch engagierte Menschen, wie die oben Erwähnten! Denn diese Sympathie und Motivation bleiben den interessierten Ärzten in Weiterbildung am Schluss in positiver Erinnerung! Im Großen und Ganzen ist der Land(-arzt)-Tag also eine gelungene Veranstaltung gewesen, die meine initialen Erwartungen erfüllt hat und daher für Kolleginnen und Kollegen in Weiterbildung durchaus empfehlenswert ist.

Ansprechpartner für den „Lockruf aufs Land“

  • „Lockruf aufs Land“: Der gleichnamige Artikel im HÄBL 10/2019 (S. 588) nennt viele Fördermöglichkeiten für junge Allgemeinmediziner, abrufbar im Internet unter www.laekh.de
  • www.kvhessen.de Für alle Fragen rund um vertragsärztliche Tätigkeit und Ansiedlungsförderung.
  • www.allgemeinmedizinhessen.de Für finanzielle Förderung der Weiterbildung Allgemeinmedizin einschließlich Jobbörse, Beratungsangeboten und Hinweise auf Weiterbildungsverbünde. Förderung Famulatur in Hausarztpraxen in Gemeinden unter 25.000 Einwohner.
  • www.kwhessen.de Kompetenzzentrum Weiterbildung Hessen für Seminarprogramm, Mentoring, Train-the-trainer Allgemeinmedizin sowie Kinder-und Jugendmedizin. Für Projekt Landtage. Ansprechpartner: Jana Groth, E-Mail: jana.groth@uni-marburg.de
  • www.laekh.deLandesärztekammer Hessen für alle Fragen rund um die Anerkennung der ärztlichen Approbation, Weiterbildung, Weiterbildungsbefugnis und Berufsrecht.
  • https://www.laekh.de/ueber-uns/standort-bad-nauheim/akademie-fuer-aerztliche-fort-und-weiterbildung Fortbildungsakademie der Landesärztekammer Hessen mit Angeboten u. a. zur psychosomatischen Grundversorgung.
  • Institute für Allgemeinmedizin der Universitäten Frankfurt am Main und Marburg für Unterstützung Blockpraktika, PJ und Schwerpunktprogramme im ländlichen Raum während des Studiums.

Anjuli SikandZur Autorin: Anjuli Sikand studierte Humanmedizin an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. 2015 begann sie ihre Weiterbildung zur Fachärztin Allgemeinmedizin im Rahmen des Weiterbildungsverbundes Allgemeinmedizin Rhein-Main. Danach wechselte sie in die ambulante Tätigkeit. Begleitend nahm sie am Programm des Weiterbildungskollegs des Kompetenzzentrums Weiterbildung Allgemeinmedizin Hessen teil. Aktuell bereitet sie sich auf die Facharztprüfung in Allgemeinmedizin vor.