Der Betriebsrat spricht von Pflegenotstand, die Geschäftsleitung von Einzelfällen: Wie geht es weiter bei Rhön?

Einige Zeit war es ruhiger geworden um die Universitätsklinik Gießen-Marburg (UKGM), deren Schicksal seit nunmehr 14 Jahren in den Händen des börsennotierten Rhön-Konzerns liegt. Doch unter der Decke brodelte es weiter. Und gegen Jahresende kochte es wieder hoch. Die Betriebsräte schlugen Alarm. Sie riefen den „Pflegenotstand“ aus, nachdem in Gießen drei Stationen mangels Personal dicht machen mussten.

Als die Konzernleitung den Medien versicherte, dass am Standort Marburg alles zum Besten stehe, zogen die dortigen Betriebsräte nach. Doch im hessischen Landtag scheiterte die Opposition von SPD und Linke mit ihrer Forderung nach einer öffentlichen Anhörung. Die seit einem Jahr amtierende Wissenschaftsministerin Angela Dorn (Grüne) setzt lieber auf Gespräche unter anderem mit dem Ziel, den Einfluss des Landes zu gewährleisten.

Die Geschäftsleitung sah sich bemüßigt, in ihren Weihnachtwünschen an die Belegschaft klar zu stellen, dass es sich bei den Alarmrufen um „Einzelmeinungen“ handele, die jeglicher Grundlage entbehrten: „Ganz entgegen der Erwartung an eine besinnliche Vorweihnachtszeit musste unser Klinikum erleben, einer in vieler Hinsicht diffamierenden Öffentlichkeitskampagne ausgesetzt zu sein.“

Was war geschehen? Anfang November berichteten Medien darüber, dass in Gießen drei Stationen schließen mussten, weil es an Pflegekräften mangele. Die Klinikleitung bestätigte dies, beantworte aber keine Fragen zu Details. Anders Vize-Betriebsratsvorsitzender Andreas Schaub: „Eigentlich ist die Situation viel schlimmer, denn auf diversen anderen Stationen sind zudem einzelne Betten gesperrt“, sagte er. Schon über den Sommer seien auf Intensivstationen ständig acht bis zwölf Betten gesperrt gewesen, weil nicht genügend Personal vorhanden war, um einen zulässigen Dienstplan zu erstellen. „Wir sind in ständiger Diskussion über weitere Schließungen.“ Was auch an der schlechten Bezahlung liege.

Als sich die Presse bei der Geschäftsleitung nach der Situation in Marburg erkundigte, hieß es, dort gebe es keine Probleme. „Der derzeit bundesweit extrem angespannte Wettbewerb zwischen den Kliniken“ sei zwar auch an diesem Standort spürbar. Doch die Anstrengungen, junge Menschen für den Ausbildungsberuf zu gewinnen und gute Gehalts- und Arbeitsbedingungen anzubieten, hätten gefruchtet. „Im Vergleich zum 1. Oktober 2018 konnten wir erneut – wie in den Vorjahren – zusätzlich neue Pflegekräfte für uns gewinnen.“ Die Überlastungsanzeigen seien in Marburg seit vergangenem Jahr rückläufig. Sie beruhten einzig auf Situationen, in denen Mitarbeiter oder Mitarbeiterinnen kurzfristig erkrankt seien.

Behauptungen, die der Marburger Betriebsrat nicht so stehen lassen wollte. Es gebe nach wie vor viele Überlastungsanzeigen, zeitweise funktioniere an Wochenenden das Meldesystem allerdings nicht. In vielen Fällen, so der Vorsitzende Wolfgang Demper, bestehe „eine eindeutige Patientengefährdung aufgrund der Personal- und Arbeitssituation“. Als Beleg zitierte er auch Überlastungsanzeigen. So schrieb ein Arzt, dass in seiner Abteilung seit drei Monaten zu viele 24-Stunden-Dienste anfielen, das Arbeitszeitschutzgesetz damit verletzt werde. In einer anderen Anzeige heißt es: „Keine Pause möglich. Unzumutbare Zustände. Hygienische Maßnahmen können nicht eingehalten werden.“ 145.000 Überstunden hätten die Beschäftigten am Standort Marburg Stand September angehäuft, die Information stamme von der Klinikleitung, so Demper. Es klemme an allen Ecken und Enden, dem Rhön-Konzern scheine nicht daran gelegen, dies zu ändern. Die Rufbereitschaft werde zum normalen Personalbestand einfach hinzugerechnet. „Die Dienstpläne sind nicht mehr besetzbar.“

Der Marburger Betriebsratsvorsitzende und seine Kollegen waren Anfang Dezember nach Wiesbaden gereist, um als Zuhörer der Sitzung des Wissenschaftsausschusses beizuwohnen. SPD und Linke hatten in einem gemeinsamen Antrag eine „Bilanz der Privatisierung“ gefordert. Die SPD hatte außerdem einen dringlichen Berichtsantrag mit 29 Fragen eingebracht, die Ministerin Dorn beantwortete. Hier zeigte sich, dass das Land mit seinen fünf Prozent Anteilen an der UKGM keinerlei Kontrollmöglichkeiten besitzt. Dorn war überwiegend auf die Informationen des Konzerns angewiesen. Und der verwies mehrfach auf „Betriebsgeheimnisse“.

Die Grünen-Politikerin sitzt seit nunmehr einem Jahr an der Spitze des Ministeriums, das viele Jahre zuvor in CDU-Hand war. Die Union unter dem damaligen Ministerpräsidenten Roland Koch hatte die bundesweit einmalige Privatisierung einer Universitätsklinik durchgesetzt. Ein Beispiel, dem bis heute keine Landesregierung folgte. Der Rhön-Konzern ist für die Krankenversorgung zuständig und Arbeitgeber aller Beschäftigten mit Ausnahme der Ärzte. Weil die auch Forschung und Lehre betreiben, sind diese beim Land beschäftigt. Wer welche ihrer Tätigkeiten bezahlt, regelt die sogenannte Trennungsrechnung. Der Konsortialvertrag ist geheim, doch er musste offenkundig immer wieder nachgebessert werden. So gab und gibt es immer wieder Hinweise darauf, dass die Wissenschaft zugunsten der Krankenversorgung zu kurz komme, an der Rhön-Aktionäre verdienen. Im Mai 2017 verkündete der damalige Minister Boris Rhein (CDU) den „Durchbruch“. Ein „Zukunftspapier“ werde die Arbeitsplätze in Marburg und Gießen sichern, das UKGM werde in den nächsten fünf Jahren mindestens 100 Millionen Euro investieren, seit Jahren offene Fragen der Trennungsrechnung würden gelöst.

Die Klinik erhalte einen zusätzlichen Betrag von rund 15 Millionen Euro jährlich für die Finanzierung der von ihr erbrachten Leistungen für Forschung und Lehre. Darüber hinaus einmalig Mittel in Höhe von 13 Millionen Euro für Investitionen und Beschaffungen. Die Vereinbarung könne erst zum Jahr 2022 gekündigt werden. So lange möchte die neue Ministerin Dorn nun nicht warten. Anders als zu Oppositionszeiten will die Grünen-Politikerin aktuell zwar nicht mehr den Wissenschaftsrat einladen. Doch wie sie bei Ausschusssitzung mitteilte, will sie mit der Geschäftsführung sprechen, um an den bestehenden Vereinbarungen anzuknüpfen. „Dabei ist das Ziel, über die Neuregelung der Trennungsrechnung, die Weiterentwicklung des Zukunftspapiers, die Gewährleistung der Einflussmöglichkeiten des Landes und das Interesse an weiterer Investitionsförderung ins Gespräch zu kommen.“ Beim Kauf hatte Rhön auf Investitionsförderungen verzichtet.

Unterdessen ist der Einfluss Wiesbadens auf die Geschäftspolitik des Rhön-Konzerns weiter geschrumpft. Boris Rhein hatte für die Landesregierung auf einen Sitz im Aufsichtsrat verzichtet. Und zum Jahresende 2019 ist der Passus abgelaufen, wonach das Land bei einem Besitzerwechsel sich vorbehält, die Klinik zurückzukaufen. Schon in der Vergangenheit gab es Bestrebungen, das UKGM weiter zu veräußern. Als das Vorhaben am Widerstand des Landes scheiterte, stieß Rhön 40 andere Häuser ab, und die potenziellen Kaufinteressenten stiegen einfach ein. Asklepios hält mittlerweile 25,10 Prozent an der Aktiengesellschaft, B. Braun Melsungen weitere 25,23 Prozent. Es könnte spannend werden in diesem Jahr.