„Wir brauchen einsichtige, kooperative, hilfsbereite und solidarische Mitmenschen!“

Die SARS-CoV-2-Pandemie bewirkte für viele Menschen einen persönlichen und auch gesellschaftlichen Schock. Wenig Wissen, viel Angst, tägliche Sondersendungen mit den neuesten Infektionszahlen und Erkenntnissen der Forscher, die sich teilweise widersprachen, beunruhigten. Sicherheit gebende, vertraute Alltagsabläufe waren plötzlich verändert, sofort wurden Flexibilität und Einsehen in die neuen Regeln verlangt. In Deutschland hielt sich die Bevölkerung diszipliniert an die Maßnahmen. Jetzt sind wir im zweiten Lockdown „light“.

Vielen Deutschen ist klar, dass diese Pandemie die größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg bedeutet. Andere Kriege und Krisen waren (real und emotional) weiter weg, haben andere stärker betroffen: die Kriege auf dem Balkan oder in Syrien, die Bankenkrise, Ebola und zuletzt die Flüchtlingskrise. Nun ist der Feind dem Einzelnen und den Familien nah, unsichtbar und unfassbar.

Im Umgang mit Covid-19 in der Öffentlichkeit hat mir ein wirkliches Verständnis für die Betroffenen gefehlt! Verbote wurden betont und zu wenig in einem wertschätzenden Ton zur Mitarbeit und Übernahme von Verantwortung aufgefordert. Alleingelassen wurden nicht nur die sozial benachteiligten Menschen, die in prekären Lebens-, Arbeits- und Wohnsituationen stecken, sondern auch alle, die mit der Auseinandersetzung mit der lebensbedrohenden Erkrankung psychisch überfordert sind.

Zu den vulnerablen Gruppen gehören auch Menschen mit Demenz, Sterbende, psychisch Kranke, Kinder und Jugendliche, für die sozialer Kontakt lebenswichtig ist! Was ist mit der extremen (psychischen) Mehrbelastung, die in den Familien (Homeoffice und Homeschooling), bei den Beschäftigten im Gesundheitswesen, im sozialen Bereich (Kindergärten, Tagesstätten etc.) und den Schulen ausgehalten wird?

Die Bewältigung der psychischen Folgen der Pandemie erfährt (wie immer) eine untergeordnete Stellung, dabei wird in ersten Studien bereits vor einer „dritten Welle“ durch Zunahme der psychischen Erkrankungen gewarnt. Diese psychische (Dauer-)Belastung – wirtschaftliche Nöte, zerstörte Existenzen, die in der erzwungenen Nähe verschärften Paar- und Familienkonflikte, die zunehmende Gewalt(-bereitschaft) in der Familie etc. – erhöht und verschärft die Zahl der psychischen Störungen. Wir werden mit vermehrtem Substanzmissbrauch, steigenden Suiziden, posttraumatischen Belastungsstörungen nach Aufenthalten auf Intensivstationen oder dem Miterleben von Dramen bei Angehörigen, Freunden oder Patienten rechnen müssen.

Mit den steigenden Infektionen in der kalten Jahreszeit nehmen auch Angst und Verunsicherung zu. Gleichzeitig beachten Teile der Gesellschaft die bewährten und hilfreichen Schutzmaßnahmen (AHA-L-Regeln) nicht (mehr). Wir haben versäumt, den Sommer zu nutzen und Konzepte für den Herbst zu entwickeln. Aus psychosomatischer Sicht halte ich die gravierenden Mängel bei der Vermittlung der Maßnahmen als ursächlich für unsere schlechte Vorbereitung.

Trotz des Wissens aus anderen Pandemien um die verschiedenen Phasen der Bekämpfung (Containment, Protection, Mitigation) wird die gleiche, bevormundende Kommunikation unter Betonung der Quarantänisierung weitergeführt. Aus meiner Sicht ist das gefährlich, weil Restriktion den Widerstand erhöht. Um durch die dunkle, kalte und nasse Zeit zu kommen, brauchen wir einsichtige, kooperative, hilfsbereite und solidarische Mitmenschen! Wir brauchen eine gute Balance zwischen Infektionsschutz und Wohlbefinden und Lebensqualität. Mit meinen Patienten bespreche ich, was sie tun können, um sich und andere zu schützen. Um die neuen Verhaltensmuster bei ALLEN besser einzuprägen, müssten tägliche Spots gezeigt werden, in denen Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit verschiedenen Hintergründen in ihrer eigenen Ausdrucksart über die Maßnahmen zum Infektionsschutz reden. Wir müssen die Leute abholen, wo sie stehen. Wir alle haben Fähigkeiten, Krisen zu bewältigen, aus ihnen sogar gestärkt hervorzugehen. Die Forschung hat viele Einflussfaktoren auf die Resilienz gefunden: z. B. Deutungs- und Sinngebungsmodell der Realität, Toleranz für Ungewissheit, Fähigkeit zur Kontrolle (heftiger) Emotionen, Probleme aktiv lösen und Beziehungen gestalten, Zusammenhalt sowie Akzeptanz des Unveränderbaren mit Fokus auf das Veränderbare.

Wo wir Angst haben, unsere Sicherheit zu verlieren, können wir handeln und aktiv Hygienemaßnahmen ergreifen. Wir können Verantwortung tragen, uns gegenseitig helfen und Gemeinschaft erleben. Darüber spüren wir, dass wir doch eine Wahl haben und etwas bewirken können (Selbstwirksamkeit). Das erlebte und gegebene Mitgefühl, die (Selbst-)Akzeptanz stärken unseren Selbstwert und auch unser Immunsystem. Die Universitiät Gießen gibt auf einer wunderbaren Website wertvolle Tipps zur psychosozialen Unterstützung für die schweren Zeiten: www.uni-giessen.de/fbz/fb06/hilfe_corona/

In diesem Sinne: Bleiben Sie aktiv, achtsam und gesund!

Dr. med. Barbara Jäger, Präsidiumsmitglied der Landesärztekammer Hessen