Die Ärztin Sabine Moos berichtet über ihre Arbeit als Transplantationsbeauftragte

Damit diese Situation in unserem Klinikum möglichst nicht passiert, bin ich seit Juni 2016 als Transplantationsbeauftragte am Universitätsklinikum in Gießen angestellt. Das UKGM hatte sich schon vor der Änderung des Transplantationsgesetzes im Jahr 2019 der Thematik Organspende gestellt und als erstes Klinikum in Hessen die Stelle einer hauptamtlichen Transplantationsbeauftragten geschaffen.

Nachdem ich 16 Jahre lang als Koordinatorin bei der DSO (Deutschen Stiftung Organtransplantation) gearbeitet hatte, bot mir das UKGM Gießen die Stelle als hauptamtliche Transplantationsbeauftragte an. Ich selbst habe mir dann gewünscht, mit 50 % meiner Tätigkeit in der Psychosomatik als Ärztin zu arbeiten, um hier meine fachgebundene Weiterbildung Psychotherapie zu beenden, was mir auch ermöglicht wurde und was ich in der Rückschau als sehr gute Kombination empfinde.

Da ich bereits als DSO-Koordinatorin für das UKGM in Gießen verantwortlich war, kannte ich die Strukturen und die Menschen dort. Außerdem habe ich mein Medizinstudium und auch den ersten Teil meiner Facharztweiterbildung zur Internistin als Ärztin im Praktikum in der Inneren in Gießen auf der Station von Prof. Dr. med. Georg Schütterle absolviert – so dass mir das Klinikum sehr vertraut war.

Trotzdem war es natürlich „Neuland“, weil ich meinen Platz als Transplantantationsbeauftragte in der Klinik erst mal finden musste. Wenn ich zu Anfang auf die Intensivstationen kam, hieß es immer: „Da kommt ja die DSO, haben wir einen Spender?“ Dadurch, dass ich so lange als Koordinatorin der DSO für Gießen zuständig war, war ich so etwas wie die „DSO in persona“. Immer wieder erklärte ich, dass ich jetzt als Transplantationsbeauftragte am UKGM direkt arbeite und Klinikumsmitarbeiterin bin.

Da es die Funktion der hauptamtlichen Transplantationsbeauftragten mit Freistellung für diese Tätigkeit bisher auch nicht gab, gab es von Seiten der Mitarbeiter großen Informationsbedarf und viele Nachfragen, was denn jetzt meine Aufgaben seien.

Organspende – immer eine Teamaufgabe

Ich selbst habe meine Aufgabe als Transplantationsbeauftragte so definiert, dass meine Tätigkeit dazu führen soll, dass Organspende am Klinikum in den verschiedenen Bereichen wie Intensivstationen, OP-Abteilung oder Anästhesie positiv besetzt ist und selbstverständlich auch immer ein Thema bei den Entscheidungen am Lebensende ist. Dieses Anliegen kann man als Einzelkämpfer nicht erreichen, denn Organspende und die Beschäftigung mit der Thematik ist immer eine Teamaufgabe. WIR als Klinikum, WIR als Intensivstation, WIR als Pflegende und Ärzte auf den Stationen müssen uns mit der Thematik auseinandersetzen und auch eine eigene Position dazu finden. Wie schaffen wir es in den Gesprächen mit Angehörigen, wo es um die infauste Prognose eines geliebten Menschen und in der Folge um Therapielimitierung, Therapieabbruch, palliatives Konzept oder Inhalte der Patientenverfügung und Intensivtherapie geht, auch die Thematik Organspende anzusprechen und ob es einen geäußerten Willen des Patienten dazu gibt?

Für mich kann ich sagen: Ich schaffe das, weil ich Transplantationen als faszinierende Möglichkeit sehe, todkranken Menschen zu helfen, die ohne Transplantation keine Chance hätten. Ich weiß aber auch:

»Lebensrettende Transplantationen können nur stattfinden, wenn auch Organe gespendet werden!«

Gerade wir als Universitätsklinikum und Transplantationszentrum haben hier auch eine Vorbildfunktion. Daher ist es wichtig, dass bei allen Entscheidungen am Lebensende auch immer die Option Organspende in den Kliniken thematisiert wird.

Wie setze ich dieses Anliegen in meinem Alltag als Transplantationsbeauftragte um?

Natürlich kann ich nicht jeden Tag auf allen neun Intensivstationen unseres Klinikums an allen Visiten teilnehmen. Aber wie ich bereits gesagt habe: Organspende ist eine Teamaufgabe und wir haben auf allen unseren Intensivstationen jeweils einen pflegerischen und ärztlichen Transplantationsbeauftragten, der mich dort in meiner Funktion unterstützt. Die Kollegen sind für ihre Aufgabe als Transplantationsbeauftragte ebenfalls speziell geschult und wir stehen in regelmäßigem Austausch und Kontakt.

Daneben führe ich jeden Tag ein Screening aller unserer Patienten auf den Intensivstationen durch, schaue mir an, welche Patienten mit einer schweren Hirnschädigung aufgenommen wurden, sichte den Befund des CCT und auch andere Befunde, wie aktuelle Laborwerte. Hat ein Patient beispielsweise eine schwere Hirnschädigung in Kombination mit einer Hypernatriämie, so könnte dies auf einen Diabetes insipidus hindeuten und auf eine sich weiter entwickelnde Hirnstamm-areflexie. In diesen Fällen gehe ich dann auf die entsprechende Intensivstation und bespreche die Fälle mit den Kollegen direkt. In den meisten Fällen, ich würde fast sagen in 99 Prozent der Fälle, die wir uns anschauen, stellt sich dann im weiteren Verlauf heraus, dass diese Patienten trotz ihrer schwersten Hirnschädigung keine komplette Hirnstammareflexie erleiden – weil beispielsweise der Atemreflex noch erhalten ist und sie somit nicht als Organspender in Frage kommen. Trotzdem ist es wichtig, dass wir uns alle diese Fälle ansehen, um letztendlich keinen potenziellen Organspender zu übersehen.

Mehrfach im Jahr treffe ich mich auch mit dem für unser Klinikum zuständigen DSO Koordinator, um alle am Klinikum verstobenen Patienten, bei denen eine schwere Hirnschädigung vorgelegen hat, zu besprechen und auch zu evaluieren, ob alle Patienten, die als Spender in Frage gekommen wären, auch der DSO gemeldet wurden. Das Programm „Transplant Check“ filtert dazu alle im Evaluationszeitraum verstorbenen Patienten mit einer schweren Hirnschädigung heraus und retrospektiv schauen wir dann auch in Rücksprache mit den Kollegen auf den Intensivstationen, ob alle potenziellen Spender gemeldet wurden.

»Jeder besprochene Fall schärft die Aufmerksamkeit und Sensibilität für die Thematik Organspende.«

Die Thematik „Wer kommt als potenzieller Organspender in Frage?“ spielt auch bei unseren Fortbildungen eine große Rolle. So ist es trotz aller Bemühungen und Information auch bei uns vorgekommen, dass ein potenzieller Spender am Wochenende aufgenommen wird und trotz schwerer Hirnschädigung nicht gemeldet wird, da nach Meinung der behandelnden Kollegen „eine Organspende ja sowieso nicht in Frage komme“, da vermeintliche Kontraindikationen bestehen (wie Rauschmittelabusus) oder der Patient viel zu alt sei.

Jeder potenzielle Spender muss individuell betrachtet werden

Dazu sage ich in den Fortbildungen immer nur, dass wir bei jedem potenziellen Spender individuell prüfen müssen, ob er in Frage kommt:

Ein hohes Alter alleine ist keine Kontraindikation!

Ein hohes Alter in Verbindung mit vielen anderen Begleiterkrankungen kann aber sehr wohl dazu führen, dass man sich gegen eine Organspende entscheidet.

Die mir persönlich bekannte älteste Spenderin war 87 Jahre alt und hat zwei Nieren, eine Leber und eine Lunge gespendet und die Organe funktionieren bei den Empfängern schon einige Jahre. Diese Spenderin war aber auch für ihre 87 Jahre sehr fit und ist durch einen Verkehrsunfall, an dem sie als Fahrradfahrerin beteiligt war, ums Leben gekommen. Aber die Botschaft an die Kollegen auf den Intensivstationen ist, auch bei älteren Patienten immer die Option Organspende im Hinterkopf zu haben.

»Organspende muss bei jedem Gespräch, in dem es um Therapieentscheidungen am Lebensende geht, auch Thema sein.«

Was meint das konkret? Als Behandler sollten wir uns immer fragen: Wissen wir, was der Patient auf der Intensivstation, bei dem eine infauste Prognose gestellt wurde, über Organspende gedacht hat? – Getreu der Überschrift dieses Artikels: Stell Dir vor, Du möchtest Organe spenden und keiner fragt Dich danach!

Es muss klinischer Alltag werden, dass die Thematik Organspende mit den Angehörigen zu einem frühen Zeitpunkt erörtert und Organspende als Option in Erwägung gezogen wird, bevor es zur Therapielimitierung kommt. Dazu ist es notwendig, dass die Transplantationsbeauftragten in die Gespräche über Entscheidungen am Lebensende auf den Intensivstationen oder auch bereits in den Notaufnahmen involviert werden.

Wir begleiten den Entscheidungsprozess

Es geht ganz sicher nicht darum, dass Angehörige zu einem Ja zur Organspende gedrängt werden, sondern darum, dass wir uns als Entscheidungsbegleiter für Angehörige sehen. Es ist wichtig, dass von uns als behandelnden Ärzten, Pflegekräften und Transplantationsbeauftragten die Gespräche zur Organspende entscheidungsoffen geführt werden.

Egal ob sich Angehörige dafür oder dagegen entscheiden:

  • Jede Entscheidung ist in Ordnung.

Wir können uns in diesen Gesprächen immer als Informationsvermittler und Entscheidungsbegleiter anbieten, gerade in den Fällen, in denen der Verstorbene zu Lebzeiten keine persönliche Entscheidung zur Organspende getroffen hat. Dass diese Gespräche und die Frage nach der Organspende für alle Beteiligten sehr belastend sind, hat jemand mal sehr treffend formuliert mit dem Satz: „Die Frage nach der Organspende ist die schwierigste Frage zum ungünstigsten Zeitpunkt an die unglücklichste Familie.“

In der Regel sind die Ereignisse, die zu einer schweren Hirnschädigung wie Hirnblutungen, Schädelhirntraumen durch Unfälle oder Stürze oder schwere Schlaganfälle führen, sehr plötzlich und unerwartet und treffen die Patienten oft mitten im Leben. Auch die Angehörigen sind auf diese Situation nicht vorbereitet und werden von jetzt auf gleich damit konfrontiert, dass ihr vorher meist noch aktiver Angehöriger in einer lebensbedrohlichen Situation ist, aus der es wahrscheinlich kein Zurück ins Leben gibt. In dieser Situation auch noch mit der Frage nach der Organspende konfrontiert zu werden, ist insbesondere dann für die Angehörigen sehr belastend, wenn der Verstorbene keine eigene Entscheidung zu Lebzeiten getroffen hat.

Routine im Umgang mit dem Tod entwickelt man nicht – und die Schicksale der Patienten und die Umstände, die zum Hirntod führen, gehen uns und den behandelnden Ärzten und Pflegekräften auf den Intensivstationen oft sehr nahe. Oft fühlen sich diese unsicher im Umgang mit den trauernden Angehörigen und in den Gesprächen mit diesen.

Hilfe für Gespräche im Angesicht des Todes

Um die Kollegen auf den Intensivstationen in dieser Situation zu unterstützen und auch Hilfen für die Gesprächsführung zu vermitteln, bieten wir in Zusammenarbeit mit dem Bildungszentrum regelmäßig einen Fortbildungstag zur Gesprächsführung bei einer etwaig anstehenden Organspende an. Dabei schlüpfen Laienschauspieler in die Rolle von Angehörigen. In nachgestellten Situationen üben die teilnehmenden Ärzte und Pflegekräfte ein solches Gespräch. Von den Laienschauspielern eine Rückmeldung zu bekommen, wie sie das Gespräch und die Situation erlebt haben, wird von den Teilnehmenden als große Bereicherung gesehen und als Hilfe für den Alltag.

Meine feste Überzeugung ist, dass wir als Ärztinnen und Ärzte verpflichtet sind, die Frage nach der Organspende zu stellen, denn nur dann haben Angehörige überhaupt die Möglichkeit, eine Entscheidung dafür oder dagegen zu treffen. Laotse hat einmal gesagt: „Wir sind verantwortlich für das, was wir tun, aber auch verantwortlich für das, was wir nicht tun.“

In unserem Fall heißt das: Würde eine Organspende in Frage kommen und die Angehörigen werden nicht gefragt, so nimmt man einer solchen Familie auch eine Chance, sich für die Organspende zu entscheiden und möglichen Empfängern die Chance auf eine lebensrettende Transplantation.

Neben den Fortbildungen auf den Intensivstationen arbeiten wir im Bereich der Fortbildungen auch eng mit dem Bildungszentrum in unserem Hause und der Fachweiterbildung für die Operationstechnische Assistenten (OTA) und der Fachweiterbildung Anästhesie und Intensivmedizin der Krankenpflegeschule am UKGM zusammen. So bieten wir regelmäßig einen „Tag der Organspende“ an, bei dem es um Spendererkennung, Ablauf der Organspende, Kommunikation mit den Angehörigen, Feststellung des Irreversiblen Hirnfunktionsausfalles und Intensivtherapie geht. Daneben laden wir auch Betroffene,Transplantierte und Angehörige von Organspendern ein, die von ihren ganz persönlichen Erfahrungen erzählen.

Qualitätszirkel Organspende

Ein wichtiges Werkzeug für die Verankerung der Organspende in unserem Klinikum ist auch der regelmäßig stattfindende Qualitätszirkel Organspende unter Leitung des Ärztlichen Direktors, derzeit Prof. Dr. med. Andreas Böning. Dieser Qualitätszirkel ist wichtig für die Vernetzung der Thematik Organspende – und durch die Unterstützung des Ärztlichen Direktors erhält sie auch die entsprechende Bedeutung in der Klinik. Im Qualitätszirkel geht es um einen regelmäßigen Erfahrungsaustausch der Transplantationsbeauftragten untereinander, aber auch mit anderen Beteiligten aus der Funktionsdiagnostik, wie zum Beispiel dem Herzkatheter- oder dem OP-Bereich.

Neben dem Ärztlichen Direktor, dem ich als Transplantationsbeauftragte des Klinikums direkt unterstellt bin, nehmen an dem Qualitätszirkel Organspende alle Transplantationsbeauftragten des Hauses, Kollegen aus der Funktionsdiagnostik, der Klinikseelsorge oder auch der Rechtsmedizin sowie der Ethikbeauftragte des Hauses teil. Im Qualitätszirkel werden die jüngsten Organspenden, aber auch Spendermeldungen, die nicht realisiert wurden, besprochen – ebenso wie mögliche Probleme oder Kritikpunkte. Dazu suchen wir dann als Team entsprechende Lösungen.

Organspende als Thema für Medizinstudierende

Da wir als Uniklinikum auch in die Lehre der Studierenden involviert sind, ist es eine weitere Aufgabe, diesen Studierenden in verschiedenen Semestern alle Fragen rund um die Organspende nahezubringen. Mittlerweile ist das Thema Organspende in mehreren Vorlesungen fest etabliert, vom ersten Semester in der Einführung in die klinische Medizin bis hin zu einem Wahlpflichtseminar „Organspende und Transplantation“ im achten Semester. Dieses Seminar umfasst zwölf Termine à 90 Minuten und beschäftigt sich mit Aspekten wie Ablauf der Organspende, Spendererkennung, Hirntoddiagnostik, Immunologie, Ethik und Transplantation von Nieren, Lungen und Herz.

Wie wichtig die Ausbildung der Studierenden zur Thematik Organspende ist und wie sehr sich der Aufwand lohnt, zeigt sich in Gießen zum Beispiel am Engagement des Arbeitskreises „Studenten für Organspende“. Hierbei handelt es sich um eine bundesweite Organisation Medizinstudierender, deren Mitglieder ehrenamtlich in Schulen gehen und dort Schülerinnen und Schüler über die Organspende aufklären. Gemeinsam haben wir im vergangenen Jahr den „Workshop Organspende“ für diese Studierenden aus ganz Deutschland veranstaltet, der sehr positiv aufgenommen wurde. Diese Studierenden sind Multiplikatoren in unseren Schulen und die zukünftigen Ärztinnen und Ärzte, die in einigen Jahren auf unseren Intensivstationen arbeiten, sich für die Organspende engagieren werden und für die Thematik bereits jetzt sensibilisiert sind.

Öffentlichkeitsarbeit wichtig

Auch Öffentlichkeitsarbeit zur Thematik Organspende außerhalb der Klinik in Form von Vorträgen oder Diskussionsveranstaltungen bei den Landfrauen, Rotary oder Zonta-Club, lokalen Kreisverbänden, Kirchenverbänden oder Parteiverbänden gehören neben Presseterminen mit Zeitungen, Hörfunk und Fernsehen zu regelmäßigen Tätigkeiten einer Transplantationsbeauftragten.

Ausblick: Organspender sind Lebensretter

Die Aufgaben der Transplantationsbeauftragten sind sehr vielfältig und erfordern viel Unterstützung, Vernetzung und Teamgeist, um das Ziel zu erreichen, durch Transplantationen Leben zu retten. Genauso wie Organspende in unserer Gesellschaft mehr Anerkennung erfahren sollte, muss es auch unser Ziel sein, in den Kliniken die positiven Aspekte der Organspende in den Fokus zu stellen. Organspender sind Lebensretter – unsere Aufgabe in den Kliniken ist es, in den Entscheidungen zum Lebensende daran zu denken, damit nicht passiert, was als Überschrift für diesen Artikel gewählt wurde: Stell Dir vor, Du wolltest Organe spenden – und keiner hat danach gefragt!

Sabine Moos, Transplantationsbeauftragte, Fachärztin für Innere Medizin, Universitätsklinikum Gießen und Marburg GmbH (UKGM), Standort Gießen, E-Mail: sabine.moos@uk-gm.de