„Wir brauchen einen Paradigmenwechsel – medizinisch, ethisch und ökonomisch“

Die Corona-Krise entwickelte sich in der pandemischen, weltweiten Ausbreitung eines gefährlichen, noch vorher unbekannten und nicht erforschten Virus. Die Auswirkungen waren nicht nur biologisch, sondern auch in ihren Begleiterkrankungen wie Ängsten, Depressionen und ihren sozialen Folgen mit Millionen von existenziellen Bedrohungen oder Verlusten in ihrer Schwere und Bedeutung ungewöhnlich groß.

In der Gesundheitsversorgung durch die systemrelevanten Berufe wurde hier wieder überzeugend deutlich, dass der seit Jahrzehnten bestehende biologisch-naturwissenschaftliche Krankheitsbegriff in der Humanmedizin nicht mehr ausreichend ist. Die auch aktuell noch vorhandene Orientierung an biologischen Ursachen der Krankheit begünstigte eine Ritualisierung der Verschreibung von Rezepten mit allopathischen Medikamenten, die von Patienten oft nicht oder nur selten oder zu wenig eingenommen wurden.

Was die Patienten dagegen oft vielmehr brauchten, waren Gespräche mit ihren Hausärzten, die ihre Lebensgeschichte kannten – mit traumatischen Erlebnissen, Beziehungskonflikten, beruflichen, existenziellen Lebenskrisen in ihren bio-psycho-sozialen Zusammenhängen.

Krankheit ist von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) implizit durch das Gegenteil von Gesundheit definiert: das Fehlen von völligem körperlichem, geistigem, seelischem und sozialem Wohlbefinden. Diese kontroverse Definition ist nicht haltbar. Beispiel: Wenn ein Mensch sich sozial unwohl fühlt, weil er von seiner große Liebe verlassen wurde oder er oder sie den Arbeitsplatz verloren hat, kann er Trauer empfinden, ohne dadurch krank zu werden.

Der Krankheitsbegriff ist in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) nicht explizit definiert. Folgende Definition dazu findet sich im Kommentar zu den MB/KK der Privaten Krankenversicherung von Bach/Moser1: „Krankheit ist ein anomaler Körper- oder Geisteszustand, der eine nicht ganz unerhebliche Störung körperlicher oder geistiger Funktionen mit sich bringt.“

Ärzte sind heute teilweise noch an einem biologisch-naturwissenschaftlichen Krankheitsbegriff orientiert. Dieser ist jedoch überholt. Die psychischen, psychosomatischen und sozialen Folgeerscheinungen der Corona-Krise mit Einschränkungen der persönlichen Freiheit und Nähe, die Zunahme der Frühberentungen, die Folgen der neoliberalen Globalisierung mit Burnout durch Überlastungen der Arbeitnehmer auf Druck der Arbeitgeber, um bei dem gefährdenden Wettbewerb zu überleben, Mobbing am Arbeitsplatz, der Verlust der Arbeit, die weltweiten Skandalisierungen und Lust an Hass und Gewalt, der Verlust von Beziehungen, existenziellen Grundlagen und sozialen Netzwerken im Alter veranlassten den Präsidenten der Ärztekammer Berlin, Prof. h. c. (DPU) Dr. med. Günther Jonitz, in Erfurt zur Aussage, dass bio-psycho-soziale Wechselbeziehungen bei fast jeder Krankheit bestünden. Dieses neue Paradigma formulierte erstmalig George L. Engel 1976.

Wir Menschen leben in einem sozialen Netzwerk, in einer Beziehungswelt. In unseren Beziehungen erleben wir Liebe, Glück, Freude, Traurigkeit, Verletzungen, Enttäuschungen, Wut, Scham, Neid. Viele Kosten könnten für sinnvolle ärztliche Gespräche in der Sprechstunde mit gestaffelten Zeiteinheiten effektiver investiert werden und die Kosten für Psychopharmaka deutlich vermindern. Evidenzbasierter Beweis für den Einfluss psycho-sozialer Faktoren: Ein Patient meldet sich krank wegen Überlastung und Kränkung am Arbeitsplatz, wird aber, sobald er in Rente geht, sofort wieder gesund. Ein anderer älterer Mensch in einem Seniorenheim sagte: „Ich sterbe nicht an Covid-19, sondern an Einsamkeit.“

Wie können Ärztinnen und Ärzte die Krankheit ihrer Patienten als ein bio-psycho-soziales Geschehen erkennen, verstehen und behandeln?

  1. Bei längerer Krankheit über vier Wochen mit psychischen Störungen sollte der Betriebs- bzw. Personalrat oder ein Sozialarbeiter des zuständigen Sozial- oder Gesundheitsamtes eingeschaltet werden, um die psychosoziale Situation am Arbeitsplatz durch Mediation im Gespräch mit der bzw. dem zuständigen Vorgesetzten zu verbessern oder zu erleichtern. Psychotherapie allein reicht zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit oft nicht aus.
  2. Im ärztlichen Gespräch soll im Anschluss an die Schilderung der Beschwerden durch den Patienten die Frage nach der auslösenden Situation gestellt werden: Wann hat alles angefangen? Eine Antwort wie „Das weiß ich nicht mehr“ sollte den Arzt unbeirrt lassen sowie zum weiteren Nachfragen anregen: „Was war damals los?“ Paradoxerweise weiß der Patient (zumeist), was der Auslöser war, will zugleich aber von diesem nichts wissen. Die nächste Fragen könnte lauten: „Wer oder was hat Sie damals gekränkt?“ Auf diese Weise wird das bio-psycho-soziale Krankheitsgeschehen bald deutlich – meist wegen unbewusster, verdrängter, da als gefährlich versteckter Wut bei Ängsten und depressiven Episoden. Es handelt sich also oft um Krankheit durch Kränkung. Hier gilt es zu ergründen, gegen wen bzw. wogegen er/sie sich mit seinen/ihren Beschwerden beschwert („Ausdruckskrankheit“ nach Thure von Uexküll).
  3. Teilnahme an einem Seminar über die psychosomatische Grundversorgung mit Erwerb der Legitimation zur Abrechnung der Position EBM 22221 und GOÄ 849 Psychotherapeutische Behandlung (ohne Gutachter, ohne Pflicht zu bestimmten Methoden).
  4. Teilnahme an Balintgruppen.
  5. Teilnahme an Stammtischen mit Kollegen und Austausch über Probleme mit Patienten.
  6. Voraussetzung für ein effektives ärztliches Gespräch sind: Empathie, warme emotionale Zuwendung und Zuhören, keine Verurteilung, Authentizität.
  7. Berufsrechtliche Aktivitäten zur Einfügung neuer Positionen für ein ärztliches Gespräch in die Gebührenordnungen wie bei EBM 22221. In der Position GOÄ 849 könnte wie folgt berechnet werden: eine GE=Gesprächseinheit (25 €) differenziert mit 1=15 Minuten, 2=30 Minuten, 3=45 Minuten, 4=60 Minuten. Das wäre eine angemessene Honorierung sprechender Medizin.

Die Arbeit mit Krankheit als einem bio-psycho-sozialen Geschehen ist ein neuer Weg, der vom Therapeuten mehr Mut zu einem Gespräch und Aneignung der Voraussetzungen durch Fort- oder Weiterbildung verlangt. Er/sie wird belohnt werden durch mehr Freude an der Arbeit, durch Dankbarkeit der Patienten wegen des Abschieds von den Fünf-Minuten-Zeitslots mit Rezeptverschreibung und durch die abnehmende Frequenz der Arztbesuche vonseiten der sich verstandenen fühlenden, von der sprechenden profitierenden Patienten – die davon auch weitererzählen werden.

Dr. med. Günter Maaß, Kontakt via E-Mail an: haebl@laekh.de

Dr. med. Günter Maaß (Foto) ist Facharzt für Innere Medizin, Psychotherapie und Psychoanalyse (DPV/IPV). Vita: 1966–1970 wissenschaftlicher Assistent an der Psychosomatischen Universitätsklinik Heidelberg und am Sigmund-Freud-Institut Frankfurt/Main (Direktor: Prof. Dr. med. Alexander Mitscherlich). 1970–1994 Chefarzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Deutschen Klinik für Diagnostik Wiesbaden. Dozent an der Akademie für Ärztliche Fort- und Weiterbildung der Landesärztekammer Hessen, Bad Nauheim, Mitgründung des Fortbildungscurriculums für Psychosomatische Grundversorgung. Eintritt in den Ruhestand mit 65 Jahren. Seither weiter tätig in Fort- und Weiterbildung, als Autor, Psychotherapie-Gutachter und Beratungsarzt. (red)

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1 Musterbedingungen der Krankheitskosten- und Krankenhaustagegeldversicherung (MB/KK): § 1 II.1, S. 243.