„Geburt per Telefon – Von F. Walter“

Vorwort: Die Zukunft entscheidet, welche Techniken sich durchsetzen

Wie einst 1865 Jules Verne über die Reise des Menschen zum Mond schrieb, so sinnierte man bereits im Jahre 1935 über Ärzte, die den ganzen Tag in ihrem Studierzimmer sitzen und die Patienten nur noch über den Bildschirm ihres Televisors behandeln würden...

Diese einstige Vision ist heute schon fast sinnvolle Realität in der Welt mehrerer Fachgebiete, wie der Radiologie, Kardiologie, Labormedizin oder Humangenetik. Andere Bereiche stehen vor dem Durchbruch: Telemedizin, Krankmeldung aus der Ferne mittels App, der virtuelle Hausarzt im Pflegeheim, auf dem Lande und vieles mehr. Die im folgenden Artikel beschriebene „Geburt per Telefon“ lässt aufhorchen. Ob und wieweit eine Entwicklung tatsächlich auch sinnvoll ist, darüber entscheiden weder Subvention noch Strafen, darüber entscheidet die Zukunft.

Das Apollo-Programm der USA wurde nach wenigen Jahren aus Kostengründen für Jahrzehnte eingestellt. Es wurde bewiesen, wir können auf dem Mond landen, tun es aber nicht jeden Tag...

Michael Andor, Präsidiumsmitglied der LÄKH, Facharzt für Allgemeinmedizin, Groß-Gerau

Aus dem Groß-Gerauer Kreisblatt vom 23. Juli 1935

Hier folgt der Text des historischen Artikels in Frakturschrift (Auszug siehe Foto) transkribiert:

„Uebertriebene Vorstellungen wählen mit Vorliebe die Fortschritte der Wissenschaft zum Gegenstand ihrer Zukunftsbilder. Da ist zum Beispiel der Arzt des Jahres 2000. Er stattet kaum noch Krankenbesuche ab, sitzt vielmehr daheim in seinem Studierzimmer, vor sich einen Fernsehapparat. Ein Griff am Schaltbrett, und Patient um Patient erscheint plastisch auf der Mattscheibe des Televisors. Der Fernbildempfang ermöglicht die Uebertragung der Röntgenaufnahmen des erkrankten Organs. Der Arzt sieht in seinem Zimmer den Körper des fernen Patienten von X-Strahlen durchleuchtet, wie sich die Rippen bei jedem Atemzug heben und senken, wie das Herz in der Brust pulsiert, hört dazu aus dem Lautsprecher die Atemgeräusche und das melodische lub... dub... des Herzschlages. Kurven tauchen auf, schreiben automatisch vom Krankenbett her, elektrisch ferngesteuert, mit ihrem Zickzack das Auf und Ab des Blutdruckes, der Körpertemperatur, der Pulszahl, der elektrischen Herzschrift auf die rotierende Trommel. So vermag der Arzt eine Ferndiagnose zu stellen, braucht aber auch zur Behandlung des Kranken das Haus nicht verlassen, denn auf elektrischem Wege kann er von seinem Laboratorium aus die im Krankenzimmer stehenden Apparate einschalten, welche die erforderlichen Heilstrahlen oder Wellen aussenden. Eine Utopie!

Und doch, wieviel ist davon schon Wirklichkeit geworden! Wiederholt hörten wir bereits den menschlichen Herzschlag aus dem Radiolautsprecher, die Melodie des kranken und gesunden Herzens auf Aetherwellen. Die Bildübertragung gestattet es heute ohne weiteres, Röntgenphotos per Radio auszusenden, und die technische Vervollkommnung des Fernsehens und damit auch des Röntgenkinos vom schlagenden Herzen ist nur mehr eine Sache weniger Jahre. Ja, sogar die Fernbehandlung ist kürzlich an einem Wiener Spital realisiert worden. An der Wiener Poliklinik ist es gelungen, die heilkräftigen ultrakurzen Radiowellen von einer Zentrale aus mittels Kabeln über Gänge und Stockwerke in die einzelnen Krankenzimmer zu leiten und dort dann zur Ausstrahlung zu bringen.

Nicht minder verblüffend ist die neueste Errungenschaft auf diesem Gebiet: die Fernregistrierung der Geburt auf elektrischem Wege. Sie ist nach eineinhalbjähriger Arbeit an der Universitäts-Frauenklinik in Heidelberg vor kurzem von Dr. W. Rech zur technischen Vollkommenheit ausgearbeitet worden. Nicht etwa technische Spielerei und müssige Bastelfreude haben zu der Erfindung geführt, sondern wichtige medizinische Fragen über die Bedeutung der Wehenzahlen für den Geburtsablauf und über den Einfluss der Wehentätigkeit auf den Zustand, zumal den Herzschlag des Kindes. Zur Erhellung dieser geburtshilflichen Probleme musste eben die Wehentätigkeit genau registriert werden. Nun geht es aber schwer an, im Zimmer der Gebärenden knatternde und funkenstiebende Apparate aufzustellen, schon deshalb nicht, weil die Frau in ihrer schwersten Stunde ruhebedürftig ist und nicht belästigt werden darf. Also bleibt nichts anderes, als die Registrierung des Wehenverlaufes in einem anderen Zimmer vorzunehmen.

Und das ist eben durch die elektrische Übertragung gelungen. Von dem Bett der Gebärenden führen Drähte hinaus durch den Korridor in das Ärztezimmer. Hier steht der Apparat, der die Fernübertragung des Geburtsaktes in Kurvenform vornimmt. Automatisch zeichnet da ein Stift fortlaufend jede einzelne Wehe auf: Stärke, Dauer und Aufeinanderfolge mit minutiöser Genauigkeit. Der Arzt sitzt vor der Registriertrommel und verfolgt den Verlauf der Geburt, die sich in einem anderen Raum abspielt. Die Gebärende selbst ist dabei gar nicht gestört. Sie liegt ruhig in ihrem Bett, von der ganzen Prozedur merkt sie überhaupt nichts. Das Wunder der telefonischen Geburt beruht auf einfachen elektrotechnischen Prinzipien, die Dr. Rech in der klinischen Wochenschrift beschreibt. Auf und Ab der Wehen teilt sich mechanisch einem Stempel mit, der wieder mit einem elektrischen Stromkreis verbunden ist. Es entstehen so je nach der Stärke der Wehen Stromschwankungen. Diese werden durch Drähte beliebig weit in ein anderes Zimmer geleitet, wo sie durch ein selbsttätiges Registrierinstrument in Kurvenform sichtbar abzulesen sind. So leicht sich das auch liest, so bedurfte es doch anderthalbjähriger anstrengender Arbeit, um die Fernregistrierung der Geburt auf elektrischem Wege technisch einwandfrei zu bewerkstelligen. Nun, da sie gelungen ist, wird sich ihre Nutzanwendung sicherlich nicht auf die Lösung der ursprünglichen Probleme der Geburtshilfe beschränken, sondern der Wissenschaft noch weitere unverhoffte Ergebnisse erschließen.“