Corona-Management: Eine kritische Zwischenbilanz

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Podiumsdiskussion der Bad Nauheimer Gespräche

Allein in Deutschland haben sich bisher mehr als drei Millionen Menschen mit dem Corona-Virus infiziert, mehr als 90.000 sind an oder mit Covid-19 gestorben (Stand Anfang Juli 2021). Unter dem Titel „Ein Jahr Corona – eine Zwischenbilanz“ lud der Förderkreis Bad Nauheimer Gespräche am 9. Juli zu einer Podiumsdiskussion online und in Präsenzform in die Räume der Landesärztekammer ein. Noch im April hatte Ärztekammerpräsident Dr. med. Edgar Pinkowski gefordert: „Gebt uns Impfstoff und wir machen aus dem Lüftchen einen Orkan.“ Die Frage von Moderator Detlef Hans Franke, ob der gewünschte Orkan jetzt eingetroffen sei, beantwortete er mit „Noch nicht ganz“. Man merke, dass der Run vom Anfang merkbar nachlasse, bedauerte Pinkowski, und formulierte einen klaren Appell: „Lasst euch impfen!“ Vor allem in sozialen Brennpunkten müssten niederschwellige Impfangebote gemacht werden.

Nicht nur Virologen befragen

Was die sechs Experten aus Medizin, Rechtswissenschaft und Politik auf dem Podium verband, war ihre Kritik am Pandemie- Management der Bundesregierung. So bemängelte der kurz zuvor in den Ruhestand verabschiedete, langjährige Leiter des Frankfurter Gesundheitsamtes Prof. Dr. Dr. med. René Gottschalk, dass die Politik vorwiegend Virologen und nicht die Gesundheitsämter zu Rate gezogen habe. Er spreche Virologen nicht ihre Kompetenz ab, aber sie sollten nicht entscheiden, ob Schulen geschlossen oder ein Lockdown verhängt werden müsse, betonte der Infektiologe. Man hätte ein Konsortium aus verschiedenen Fachärzten und Vertretern anderer Disziplinen als Berater zusammenstellen sollen. Der öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) habe immer nur eine marginale Rolle gespielt, kritisierte Gottschalk. Als dritte Säule des Gesundheitswesens sei er nie recht wahrgenommen worden. „Unser Fehler war, dass wir nicht früh genug auf den Pudding gehauen und gesagt haben, wir können das.“ Nachdem die Gesundheitsämter in der Pandemie gezeigt hätten, was sie zu leisten imstande seien, habe er die Hoffnung, dass nun eine neue Ära angebrochen sei. Eine zentrale Aufgabe des ÖGD sei die Prävention. Bezogen auf die Pandemie heiße dies: Wenn die Hygienekonzepte gut seien - ob in Schulen, Museen oder etwa im Fußballstadion - stecke niemand jemanden an.

Schulschließungen „völlig absurd“

Gottschalk nannte es „völlig absurd“, dass Schulkinder in der Pandemie nach Hause geschickt worden seien. Ob man nach den Sommerferien wieder die gleichen Fehler machen und die Schulen schließen werde, wollte eine Zuhörerin wissen. Zur Antwort verwies Gottschalk auf eine gemeinsam mit seiner ehemaligen Kollegin Prof. Dr. med. Ursel Heudorf durchgeführte und im Hessischen Ärzteblatt veröffentlichte Untersuchung vom Frühjahr des Jahres 2020, die belege, dass sich Kinder zu Hause und nicht in der Schule ansteckten. Inzwischen sei die Hygiene in den Schulen viel besser geworden, fügte Gottschalk hinzu. Ob sich dagegen der Einsatz von Luftfiltern, den der Bund jetzt mit 500 Mio Euro fördere, als sinnvoll erweise, bezweifelte er stark. Ähnlich äußerte sich Prof. Dr. med. Hans- Iko Huppertz von der Deutschen Gesellschaft für pädiatrische Infektiologie: Es gebe keine Studien zur Sinnhaftigkeit von Luftfiltern. Gute Hygienekonzepte und regelmäßiges Lüften seien ausreichend. Huppertz hatte im vergangenen Jahr bis zuletzt dafür plädiert, Kitas und Schulen offen zu halten. Im März 2020 seien die Schulen auf der Basis von Maßnahmen zur Eindämmung der Grippe geschlossen worden, obwohl es sich bei SARS-CoV-2 nicht um ein Grippevirus handele, berichtete er. Auf die Frage nach der Evidenz für die Schließungen habe man damals keine Antwort von der Politik erhalten.

Erwachsene infizieren Kinder

Auch Huppertz bekräftigte, dass Ansteckungen in der Schule meist von Erwachsenen und nicht von Kindern ausgingen. Daher sollten alle, die in Schulen arbeiteten, zweimal geimpft seien. Die wenigen, die eine Impfung verweigerten, beschmutzten den Ruf der ganzen Lehrerschaft und gefährdeten die Kinder, beklagte der Pädiater. Der monatelange Unterrichtsausfall habe zu seelischen Problemen geführt und der Integration geschadet. In der Schule gehe es nicht nur um Wissensvermittlung, sondern auch darum, soziale Fähigkeiten zu entwickeln. Dies sei von der Politik sträflich vernachlässigt worden. Huppertz kritisierte außerdem, dass Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sich entgegen der Empfehlung der Ständigen Impfkommission (STIKO) für die Impfung ab 12 Jahren ausgesprochen habe. Der Minister hätte besser die Impfung aller Lehrer und Erzieher fordern sollen, so Huppertz.

Aufklären und impfen

Das angespannte Verhältnis zwischen Ärzten und Lehrern sei bekannt, meldete sich ein Zuhörer aus dem Publikum zu Wort. Wie aber sehe das Impfverhalten von Ärzten und Pflegekräften aus? Seines Wissens existierten dazu keine Daten, gab Pinkowski zur Antwort. Die Ärzteschaft sei ein Ausschnitt aus der Gesellschaft und bilde deren unterschiedliche Haltungen ab. Er gehöre zu jenen, die die Werbetrommel für das Impfen rührten und habe kein Verständnis dafür, wenn sich Ärzte und andere Berufe im Gesundheitswesen nicht impfen ließen. Von einer Impfprämie für Unentschlossene hielten die Experten auf dem Podium nichts. Er habe die hessische Landesregierung aufgefordert, eine Informationskampagne zu starten, um möglichst viele Menschen zu erreichen, sagte Ärztekammerpräsident Pinkowski. Die Impfstoffe seien alle gut und nur leicht unterschiedlich in ihrer Wirkung. Wenn man, wie die Politik, ein Vakzin schlechtrede, brauche man sich über fehlende Akzeptanz nicht zu wundern. Die Leute würden permanent verunsichert und das löse Ängste aus: „Respekt vor dem Virus wäre besser“. Auch Huppertz zeigte sich überzeugt, dass das Ziel der Herdenimmunität mit Aufklärung und Impfangeboten in sozialen Brennpunkten am besten zu erreichen sei.

„Zahl der Krankenhausbetten niedrig gerechnet“

Mit falschen und zu niedrigen Zahlen von Intensivbetten habe man Ängste in der Bevölkerung geschürt und den Lockdown mit einem „Erstickungsnarrativ“ – der Furcht, wegen unzureichender Krankenhausbetten mit Beatmungsgeräten sterben zu müssen – begründet, warf der Kölner Internist Prof. Dr. med. Matthias Schrappe der Bundesregierung vor. Für seine These, Krankenhäuser hätten ihre Kapazitäten künstlich kleingerechnet, hatten der ehemalige Leiter des Instituts für Patientensicherheit und seine Arbeitsgruppe heftige Kritik einstecken müssen. Bei der Podiumsdiskussion wiederholte er die Ergebnisse seiner Untersuchungen. Inzwischen sieht sich Schrappe vom Bundesrechnungshof bestätigt. Hätte die Politik mehr für den Schutz der vulnerablen Gruppen getan, hätte man weniger Freiheiten einschränken müssen, sagte Schrappe. Eine Auffassung, die Gottschalk teilte: So sei die Zunahme der Todesfälle in Altersheimen der mangelnden „Protection“ anzulasten, wie Heudorf und er in einer Studie gezeigt hätten, die bereits im August 2020 im Hessischen Ärzteblatt publiziert wurde. Kinder und Jugendliche seien die Gruppe, die in der Pandemie die meisten Einschränkungen hätte hinnehmen müssen und zugleich am wenigsten gefährdet sei, erklärte der Jurist und Rechtswissenschaftler Prof. Dr. jur. Uwe Volkmann von der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Viele rechtliche, psychische und juristische Folgeschäden seien schwer zu fassen.

Grundrechte zurückgeben

Der Rechtswissenschaftler konstatierte, dass in der Pandemie jeder einzelne der 19 Artikel des Grundgesetzes von den Beschränkungen betroffen gewesen sei. Solange es keine zumutbare Möglichkeit des Selbstschutzes gegeben habe, sei dies zu rechtfertigen gewesen. Nun, da die Möglichkeit in Form der Impfung bestehe, sei der Staat gehalten, die Beschränkungen wieder aufzuheben. Die Bürger müssten ihre Freiheit nicht zurückfordern, betonte Volkmann: „Wir haben sie!“ Was das politische Handeln betreffe, habe ihn das Durcheinander bei den Regelungen für den Einzelhandel, die Gastronomie und die Kultur am meisten gestört, sagte der FDP-Politiker Dr. h. c. Jörg Uwe Hahn, Vizepräsident des Hessischen Landtags. Wie man mit der Pandemie umgehe, sei eine gesellschaftliche Frage. Er habe das Gefühl, dass sich die deutsche, mitteleuropäische Gesellschaft davon verabschieden müsse, dass immer alles nach vorne gehe und der Staat für alles Verantwortung trage. Nach dem Motto „sicher ist sicher“; die Kanzlerin solle es richten. Zu den Buhmännern in der Pandemie hätten die Gesundheitsämter gehört, denen vorgeworfen worden sei, noch per Fax zu kommunizieren. Dass diese Kommunikationsform aus Sicherheitsgründen politisch so gewollt war, stellte Gottschalk richtig.

Neue Diskussionskultur gefordert

„Ich wünsche mir ein vernünftiges Risikomanagement in der Gesellschaft“, sagte Jörg-Uwe Hahn mit Blick auf den künftigen Umgang mit Krisen. Ihn bewege noch ein anderes gesellschaftliches Thema, hob Ärztekammerpräsident Pinkowski hervor: „Mich treibt um, dass die Diskussionskultur in der Gesellschaft so unwissenschaftlich geworden ist.“ Wer kritische Fragen stelle und nicht in den Mainstream passe, werde in die Ecke der Leugner und Verschwörungstheoretiker gestellt. Leider sei auch die Presse nicht unschuldig daran, denn „bad news is good news“, fügte Pinkowski hinzu. Statt Fakten zu berichten, werde Angst geschürt. Dabei müsse man den Menschen sagen: Wer zweimal geimpft ist, ist fast zu 100 Prozent vor Tod oder schwerer Erkrankung durch das Virus geschützt. „Wir brauchen Veranstaltungen wie diese, auf denen wir diskutieren und unterschiedliche Meinungen äußern können.“

Katja Möhrle

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