Annegret Soltau (* 1946) zählt heute zu den prägendsten Vertreterinnen feministischer Kunst in Deutschland. Ihr Werk, das über Jahrzehnte hinweg abseits des kunsthistorischen Mainstreams existierte, wird nun mit einer ersten umfassenden Retrospektive im Städel Museum Frankfurt gewürdigt. Die Ausstellung entstand in enger Zusammenarbeit mit der Künstlerin und macht deutlich, wie visionär, unbequem und zugleich berührend ihr Schaffen bis heute ist. Mit einer kompromisslosen Bildsprache, die Körper und Identität ebenso radikal wie poetisch thematisiert, hat sich Soltau einen festen Platz in der Gegenwartskunst erkämpft – jenseits modischer Strömungen und ästhetischer Gefälligkeit.
Bekannt wurde Soltau vor allem durch ihre „Vernähungen“ – eindrucksvolle Collagen aus Fotografien ihres eigenen Körpers sowie nahestehender Personen, die sie zerschneidet, neu arrangiert und mit schwarzem Faden zusammennäht. Was zunächst verstörend wirken mag, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als kraftvoller Akt der Selbstaneignung: Das Nähen, historisch weiblich konnotiert und oft als häusliche, stille Tätigkeit abgewertet, wird hier zur subversiven künstlerischen Strategie. Soltau visualisiert psychische wie physische Zustände, Verletzungen, Widersprüche – ohne sich je dem Voyeurismus auszuliefern oder ins Private abzugleiten. Vielmehr überführt sie das Persönliche ins Politische und legt die Mechanismen gesellschaftlicher Zuschreibungen offen.
Ihre Arbeiten thematisieren zentrale weibliche Erfahrungen – von der Schwangerschaft über Mutterschaft bis hin zur Auseinandersetzung mit Alter und Vergänglichkeit. Ihre Werke fordern nicht nur das klassische Bild vom weiblichen Körper heraus, sondern machen auch sichtbar, wie sehr gesellschaftliche Normen auf Vorstellungen von Schönheit, Funktion und Sichtbarkeit lasten.
Immer wieder hat sie in ihrer Laufbahn Widerstände erfahren: Ihre Arbeiten wurden zensiert, missverstanden oder schlichtweg ignoriert. Doch gerade diese Reibung mit gesellschaftlichen Konventionen macht die Relevanz ihrer Kunst aus. Heute – im Zeitalter digitaler Selbstinszenierung, andauernder Debatten über Körperbilder und feministischer Re-Lektüren der Kunstgeschichte – erscheinen ihre Werke aktueller denn je. Sie irritieren, sie provozieren, sie fordern heraus – und genau darin liegt ihre Stärke.
Die Retrospektive „Unzensiert. Annegret Soltau“ versammelt über 80 Arbeiten aus fünf Jahrzehnten: von frühen Zeichnungen und Fotoradierungen über experimentelle Videoarbeiten und Installationen bis hin zu zentralen Schlüsselwerken der feministischen Body Art. Dabei werden auch selten gezeigte Werke präsentiert, die die enorme Bandbreite ihres Schaffens verdeutlichen. Leihgaben stammen unter anderem aus dem Louisiana Museum of Modern Art (Humlebæk, Dänemark), dem Lenbachhaus München, dem ZKM Karlsruhe, der Sammlung Verbund Wien sowie aus privatem Besitz.
Diese Ausstellung ist weit mehr als eine bloße Rückschau. Sie ist eine notwendige, längst überfällige Würdigung einer Künstlerin, die unbeirrt ihren eigenen Weg gegangen ist – gegen gesellschaftliche Normen, gegen institutionelle Unsichtbarkeit, gegen die ästhetische Anpassung.
Soltaus Kunst ist ein Manifest der Selbstbehauptung – ungeschönt, unzensiert und unverkennbar.
Maren Siepmann