Unter dem Motto „Chancen und Herausforderungen durch kulturelle Vielfalt in der Medizin“ lud die Landesärztekammer Hessen (LÄKH) am 26. März zu einem Abschiedssymposium zu Ehren ihres ersten Menschenrechtsbeauftragten Dr. med. Ernst Girth in die Räume an der Hanauer Landstraße ein. 26 Jahre lang hatte sich der Kardiologe als Menschenrechts-, Rassismus- und Diskriminierungsbeauftragter der LÄKH engagiert, bevor er im November 2024 den Staffelstab an die Kinderärztin Barbara Mühlfeld weitergab. In seinem Grußwort zeichnete Ärztekammerpräsident Dr. med. Edgar Pinkowski Girths bisherige Lebensstationen nach, nannte ihn ein „Urgestein der Menschenrechtsbeauftragten“ und hob die Weltoffenheit des Frankfurter Arztes hervor. Dass seine Position 2020 um die des Rassismusbeauftragten ergänzt worden sei, habe sich bewährt, so Pinkowski. Die Entwicklungen auf der Welt hätten deutlich gemacht, wie wichtig dieses Engagement der LÄKH als Fundament für ein menschliches Gesundheitswesen sei.
Für ein gerechtes Gesundheitswesen
Dass Barbara Mühlfeld, die das Programm des Symposiums gestaltet hatte, krankheitsbedingt nicht teilnehmen konnte, bedauerte Pinkowski. Er bedankte sich bei Dr. med. Barbara Jaeger, Präsidiumsmitglied der LÄKH, die an Mühlfelds Stelle durch das Programm führte. Jaeger begrüßte die Zuhörerinnen und Zuhörer im Namen der von Girth und Dr. med. Siegmund Drexler mitbegründeten Liste der Demokratischen Ärztinnen und Ärzte. Gerade in der heutigen Zeit sei eine klare Haltung zu Menschenrechten und gegen Rassismus wichtig. Berivan Sekerci, Antidiskriminierungsbeauftragte des Landes Hessen, überbrachte die Grüße von Diana Stolz, der Hessischen Ministerin für Familie, Senioren, Sport, Gesundheit und Pflege. Auch sie bezeichnete die Einrichtung eines Menschenrechtsbeauftragten der LÄKH als zukunftsweisend für ein gerechtes Gesundheitswesen. Rassismus begegne Menschen auf den verschiedensten Ebenen, etwa durch Vorbehalte und mangelnden Zugang zu Gesundheitsleistungen. Kulturelle Sensibilität sei der Schlüssel zu Vertrauen und kulturelle Vielfalt nicht nur Herausforderung, sondern vor allem Chance.
Gesundheit und Rechte der Patienten über alles stellen – diesen ethischen Anspruch habe Girth immer vertreten, betonte PD Dr. med. Peter Bobbert, Präsident der Ärztekammer Berlin und seit 2019 Menschenrechtsbeauftragter der Bundesärztekammer, in seinem Grußwort (siehe S. 405).
In seinen Dankesworten erinnerte Girth daran, dass die Anfänge keineswegs leicht gewesen seien. Vor der Einrichtung der von ihm und Drexler geforderten Position des Menschenrechtsbeauftragten habe es lange Diskussionen im Präsidium gegeben, einschließlich der Frage, ob sich jemand für dieses Amt bereit erklären würde. Daraufhin habe er, Girth, den Finger gehoben. „Heute, 30 Jahre später, sind wir um viele Erfahrungen reicher.“ Ein Problem im Gesundheitswesen sei die mangelnde Zeit und Bereitschaft, sich mit anderen Kulturen zu beschäftigen. „Wir sollten aufhören, kulturelle Unterschiede zu beklagen und als lästig zu empfinden“, appellierte Girth an die Bereitschaft, strukturelle Diskriminierungen in der Medizin zu beseitigen.
Rassismus in der Medizin
Der gewaltsame Tod von George Floyd habe ihn dazu gebracht, sich als Arzt mit Rassismus in der Medizin zu beschäftigen, erklärte der Kardiologe Dr. med. Christoph Kadel in seinem Vortrag. Die großen Ungleichheiten zwischen den verschiedenen Ethnien in den USA seien nicht Folge eines dysfunktionalen Systems, sondern im Gegenteil Folge mit Bedacht getroffener sozialpolitischer Entscheidungen, viele davon im Rassismus wurzelnd, zitierte er David Williams von der Harvard School of Public Health. Kadel veranschaulichte Rassismus in der Medizin an Hand von Beispielen aus der Kardiologie in den USA.
In den 1970er-Jahren sei eine Medikamentenstudie durchgeführt und 1986 publiziert worden, die eine Kombination aus zwei Substanzen – Hydralazin/ISDN – für die Behandlung von Herzinsuffizienz geprüft hatte. Einer der Autoren hatte sich die Kombination patentieren und sie unter dem Namen BiDil® als Warenzeichen eintragen lassen. Nachdem die FDA („Food and Drug Adminstration“ = US-amerikanische Arzneimittelbehörde) die Zulassung 1997 abgelehnt hatte, habe der Patentinhaber 2002 ein Patent für die Anwendung bei afroamerikanischen Patienten beantragt. 2004 sei die Kombination in der A-HEFT-Studie erneut getestet worden, die zwar einen Vorteil für afroamerikanische Patienten gezeigt, jedoch keine weißen Patienten eingeschlossen habe, berichtete Kadel. Obwohl die FDA BiDil® für die Therapie von Herzinsuffizienz bei „African Americans“ zugelassen habe, sei BiDil gefloppt, da sich die afroamerikanische Gemeinschaft verhöhnt gefühlt habe.
Auch ein zweites von Kadel geschildertes Beispiel bezog sich auf das Thema Herzinsuffizienz. So habe die Studie einer großen Klinik in Boston ergeben, dass die Mehrheit weißer Patienten mit Herzinsuffizienz auf der kardiologischen Station aufgenommen werde. Dagegen seien die einer Minderheit angehörenden Patienten, so auch „African Americans“, zumeist auf der allgemein internistischen Station aufgenommen worden – und dies verbunden mit einer höheren Rückfallquote und Mortalität. Im Bewusstsein dieser Ungerechtigkeit hätten Ärzte aus diesem Krankenhaus zur Wiedergutmachung eine Initiative zur bevorzugten Aufnahme von schwarzen und lateinamerikanischen Patienten mit Herzinsuffizienz in der Kardiologie statt in der inneren Medizin gestartet. Diese Studie habe zu einem Aufmarsch von amerikanischen Neonazis vor der Klinik geführt, die erklärten, dass man diesen „Genozid“ an Weißen nicht toleriert.
2021, ein Jahr nach dem Tod von George Floyd, habe die American Medical Association (AMA) ein umfangreiches Dekret mit einer Vision von Gleichheit und Gerechtigkeit herausgegeben und die medizinischen Fachgesellschaften danach befragt, was aus dieser Vision geworden sei. Ein Drittel der Fachgesellschaften habe angegeben, die Empfehlungen der AMA umgesetzt zu haben, so Kadel. Inzwischen habe sich jedoch viel in den USA geändert. Heute könne er nicht mehr auf die Dokumente zugreifen, die von der AMA digital eingestellt worden seien.
Kulturelle Unterschiede und Sprachbarrieren
Welche Erwartungen haben Frauen afrikanischer Herkunft an unser medizinisches Versorgungssystem und wie erleben sie die Realität? Mit diesen Fragen setzte sich Virginia Wangare-Greiner – seit 1986 in Deutschland lebende, aus Kenia stammende Sozialarbeiterin, u. a. Vorsitzende von Maisha e. V., einer Selbsthilfeorganisation afrikanischer Frauen in Frankfurt, auseinander, die 2001 mit dem ersten Integrationspreis der Stadt Frankfurt und 2006 mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande für ihre Leistungen für die Integration ausgezeichnet wurde.
Das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden, kulturelle Unterschiede und die Sprachbarriere: große Themen, mit denen die Missverständnisse anfingen, so Wangare-Greiner. Als fünffache Mutter habe sie selbst in den 1980er- und 1990er-Jahren im Gesundheitswesen viel schlucken müssen. Etwa bei einem Arztbesuch, bei dem sie und ihre Kinder wegen der Diagnose einer Erkältung aufgefordert worden seien, ihre Oberteile auszuziehen. „Ich war schockiert“, erinnerte sich Wangare-Greiner. In ihrer Kultur sei es keine Selbstverständlichkeit, sich als Mutter vor den Kindern zu entkleiden. Dennoch habe sie es hingenommen, ohne sich zu beschweren. Ein Problem, mit dem viele afrikanische Frauen zu kämpfen hätten.
Die Gründerinnen von Maisha – einer Gruppe afrikanischer Frauen – hätten sich die Frage gestellt, ob sie gleichberechtigt im Gesundheitssystem seien? Ihre Antwort: Nein, sind wir nicht. Als Selbsthilfeorganisation hätten sie sich gegenseitig unterstützen wollen, „weil wir in den 1980er-, 1990er-Jahren sehr diskriminiert wurden.“ Inzwischen habe sich einiges weiterentwickelt, urteilt Wangare-Greiner. Doch es müsse noch vieles geändert und verbessert werden.
Beim gegenseitigen Verständnis, etwa. So gebe es nicht „die Afrikaner“, sondern viele Kulturen, Mentalitäten und verschiedene Sprachen. Daher laufe auch der Wunsch nach einem afrikanischen Dolmetscher ins Leere, wenn nicht eine konkrete Sprache angefordert werde. Auf der anderen Seite sei es wichtig, afrikanische Patientinnen darauf vorzubereiten, dass Ärztinnen und Ärzte in Deutschland präzisere Angaben zu ihren gesundheitlichen Beschwerden erwarteten. Um diese Themen gehe es u. a. auch in der humanitären Sprechstunde, die sie 2000 am Frankfurter Gesundheitsamt gegründet habe, sagte Wangare-Greiner. Wichtig seien weiterhin Beratung, Unterstützung, Empowerment, Sprachvermittlung sowie kultursensible Betreuung und Beratung.

Grace Lugert-Jose, Wirtschaftspsychologin und Spezialistin für die Integration internationaler Fachkräfte, hielt ein Referat zum Thema „Wie erleben internationale Pflegefachpersonen ihren beruflichen Einstieg in Deutschland“. Die interkulturelle Trainerin berät Kliniken, Pflegeeinrichtungen und Träger dabei, kulturelle Vielfalt strategisch zu gestalten. In ihrer Rolle berichteten ihr Pflegekräfte immer wieder von Diskriminierungserfahrungen. Zwei Studien führte Lugert-Jose bisher zur Mitarbeiterzufriedenheit philippinischer Pflegefachkräfte in Deutschland durch – zuletzt in 2023. Diese Studien brachten einen schockierenden Einblick: Die Mehrheit der philippinischen Pflegefachkräfte habe befreundeten Kolleginnen und Kollegen die Arbeit in Deutschland nicht empfehlen wollen. Fast zwei Drittel (64 %) hätten Rassismus oder andere Formen der Diskriminierung erlebt, fasste Lugert-Jose die damaligen Erkenntnisse zusammen. Sie entwickelte in der Folge ein Arbeitgebersiegel, das auf Basis von Empfehlungen internationaler Pflegekräfte verliehen wird. Es gehe dabei darum zu erfassen, wer gute Integrationsarbeit in Deutschland leiste. Viele der Arbeitgeber seien engagiert und möchten mehr tun. Teilweise fehle es aber an Kompetenz und Know-how. Hier unterstütze sie mit kultursensiblen Mitarbeiterbefragungen, Strategieworkshops und Führungsbegleitung bei Integrationsprozessen im Unternehmen.
Dr. phil. Ute Siebert berichtete vom bundesweiten Projekt „Empowerment für Diversität“. Aktuell angesiedelt an der Berliner Charité, werde im Rahmen des Projekts mit sieben Empowerment-Partner-Kliniken bundesweit zusammengearbeitet. Ziel sei es einerseits, Diskriminierung im Klinikalltag zu reduzieren. Nicht nur im Umgang zwischen Personal, Patientinnen und Patienten, sondern auch innerhalb der Teams. Darüber hinaus gehe es um die Lehre. Der Fokus liege hier auf der Qualifizierung von Lehrenden und Lernenden, um Chancengleichheit und ein diskriminierungsfreies Lernumfeld zu schaffen. Der regelmäßige Fachaustausch der Kliniken sei wichtig, so Siebert und dankte ebenfalls Girth für die aktive Zusammenarbeit. Eine lebhafte Diskussion schloss sich an.
Katja Möhrle, Marissa Leister