Bei dem 169. Bad Nauheimer Gespräch am 23. September 2025 in der Landesärztekammer Hessen sprach der Freiburger Arzt, Medizinethiker und Philosoph Prof. Dr. med. Giovanni Maio über „Der verletzliche Mensch – Für eine neue Ethik in der Medizin“.

Dem heutzutage oft gehörten Leitbegriff des autonomen, selbstmächtigen Menschen stellte Maio die Verletzlichkeit des Menschen gegenüber – nicht als Gegensatz, sondern als eine Conditio humana, als Grundstruktur unserer Existenz, die nicht hintergehbar, nicht aus unserem Sein zu tilgen sei.

Diese Unhintergehbarkeit der Verletzlichkeit leitet er aus vier Bedingungen her: der Körperlichkeit (der Mensch kann nur in einem – verletzlichen – Körper existieren), der Verwiesenheit auf andere (der Mensch ist von Geburt an bis zum Tod auf andere angewiesen, die ihn erkennen, ansprechen und ihm so überhaupt das Leben und Selbstvertrauen erst ermöglichen), der Unaufhebbarkeit des Unverfügbaren (Situationen oder Zukunft können nicht vorher bestimmt werden) und der radikalen Endlichkeit des Seins.

Geteilte Verletzlichkeit als Grundlage einer Sorgekultur

Maio versteht die Anerkennung der Verletzlichkeit als Grundelement menschlichen Lebens als Appell und Aufruf zur Sorge. Sorge als Antwort auf Verletzlichkeit, Sorge als Entwicklungsaufgabe, die den anderen nicht (nur) beschützt, sondern nach seinen Ressourcen fragt, um diese zu unterstützen. Nur eine solche responsive, antwortende Sorge könne sich zu einer Sorgekultur, einer Kultur des Beistands entwickeln, wohingegen eine proaktive Sorge, die keine wirkliche Antwort sei, zum Gegenteil von Sorge, zur Bevormundung, werden könne.

Gerade die Anerkennung der Verletzlichkeit aller Menschen, auch der eigenen Verletzlichkeit führe zur Grundsituation der geteilten Verletzlichkeit, die als Band zwischen den Menschen Einfühlsamkeit und Empathie überhaupt erst ermögliche. Die geteilte Verletzlichkeit zu reflektieren, ist für Maio etwas Hoffnungsstiftendes, „weil ich überzeugt bin, dass der Mensch grundlegend die Einsicht gewinnen kann, dass er nur mit anderen glücklich werden kann. Die Reflexion auf die Verletzlichkeit kann daher ein Antidot gegen die Egologik unserer Zeit sein“.

Prof. Dr. med. Ursel Heudorf, Bad Nauheimer Gespräche

Literatur: Giovanni Maio: Ethik der Verletzlichkeit, Herder Verlag 2024.