Der Artikel ist ein genehmigter und vom Autor aktualisierter Nachdruck aus Arzneiverordnung in der Praxis (AVP) vorab online 11. Mai 2022, abrufbar unter www.akdae.de, Kurzlink https://tinyurl.com/5n9a4xnv.

Migräne

Für Kopfschmerzen besteht eine Lebenszeitprävalenz von etwa 66 %, für Migräne von 12 bis 16 % [1]. Frauen sind zwei- bis dreimal so häufig von Migräne betroffen wie Männer.
 

Migräne ist einerseits eine häufige Ursache für vorübergehende körperliche Einschränkungen und andererseits aber auch mit anderen Erkrankungen wie beispielsweise Depression, Angsterkrankungen und vaskulären Erkrankungen assoziiert [1]. Laut der „Global Burden of Disease Study“ ist die Migräne in Europa noch vor dem Schlaganfall die führende neurologische Ursache für verlorene Lebensjahre (gemessen als DALYs = Disability-Adjusted-Life-Years) und die häufigste Ursache für eine Behinderung bei unter 50-Jährigen [2, 3].

Medikamentöse Prophylaxe

Die deutsche S1-Leitlinie „Therapie der Migräneattacke und Prophylaxe der Migräne“ leitet die Indikation zu einer medikamentösen Prophylaxe der Migräne aus dem besonderen Leidensdruck, der Einschränkung der Lebensqualität und dem Risiko eines Medikamentenübergebrauchs ab [4].

Die Indikation für eine medikamentöse Prophylaxe ist individuell zu stellen. Dabei sollten realistische Therapieziele und potenzielle Nebenwirkungen der Arzneimittel gegeneinander abgewogen werden. Anhaltspunkte, die für eine medikamentöse Prophylaxe sprechen, sind ein hoher Leidensdruck, mindestens drei Attacken mit deutlicher Beeinträchtigung der Lebensqualität pro Monat oder eine Einnahme von Analgetika an zehn oder mehr Tagen pro Monat. Es wird geschätzt, dass bei mindestens jedem vierten Patienten mit Migräne eine Indikation für eine medikamentöse Migräneprophylaxe vorliegt [5].

Die medikamentöse Prophylaxe der Migräne ist jedoch häufig unbefriedigend: Bis zur Einführung monoklonaler Antikörper standen lediglich Wirkstoffe zur Verfügung, die ursprünglich für andere Indikationen entwickelt wurden und deren Nebenwirkungen und begrenzte Wirksamkeit durch eine Adhärenzrate von unter 30 % nach sechs Monaten illustriert werden [6].

Für folgende oral einzunehmende Medikamente liegt eine Zulassung in der Prophylaxe der Migräne vor: Metoprolol, Propranolol, Flunarizin, Amitriptylin und Topiramat [4]. Auch die Wirksamkeit von Valproinsäure ist in mehreren kontrollierten Studien nachgewiesen. Valproinsäure ist off-label jedoch nur verordnungsfähig, wenn eine Behandlung mit allen anderen zugelassenen Arzneimitteln nicht wirksam war oder kontraindiziert ist und darf bei Frauen im gebärfähigen Alter wegen Teratogenität nicht eingesetzt werden. Kein Medikament hat einen nachgewiesenen Vorteil hinsichtlich seiner Wirksamkeit [7, 8]. Die Auswahl des Arzneimittels richtet sich vielmehr nach den potenziellen Nebenwirkungen: Die Wahl sollte auf ein Präparat fallen, dessen typisches Nebenwirkungsprofil für den individuellen Patienten akzeptabel ist oder dessen Wirksamkeit hinsichtlich begleitender Erkrankungen therapeutisch genutzt werden kann. Die Wirkung sollte mittels eines Kopfschmerzkalenders zwei bis drei Monate nach Erreichen der tolerablen Zieldosis evaluiert werden. Bei ungenügender Wirksamkeit – das heißt in der Regel, wenn die Häufigkeit der Migränetage nicht um mindestens 50 % bei episodischer Migräne bzw. um 30 % bei chronischer Migräne sinkt– oder bei Unverträglichkeit sollte auf einen anderen Wirkstoff gewechselt werden.

Monoklonale Antikörper

Im Gegensatz zu den bisher zu Verfügung stehenden oralen Wirkstoffen zur Migräneprophylaxe, die alle ursprünglich für andere Indikationen entwickelt wurden, richten sich die monoklonalen Antikörper gezielt gegen ein wichtiges Substrat der Migräne-Pathophysiologie, den Vasodilatator und Neuromodulator Calcitonin Gene-related Peptid (CGRP). Bisher liegt in der EU für vier monoklonale Antikörper eine Zulassung zur Prophylaxe von Migräne bei Erwachsenen mit mindestens vier Migränetagen pro Monat vor: Erenumab, Galcanezumab, Fremanezumab und Eptinezumab. Die Applikation erfolgt subkutan vierwöchentlich bei Erenumab, Galcanezumab und Fremanezumab. Bei Fremanezumab ist alternativ auch eine vierteljährliche Gabe möglich. Eptinezumab wird i.v. alle zwölf Wochen verabreicht.

Eine Verordnung eines monoklonalen Antikörpers zur Migräneprophylaxe ist gemäß den Beschlüssen des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) möglich, wenn mindestens Substanzen aus allen vier verfügbaren, zugelassenen pharmakologischen Gruppen (Betablocker, Antiepileptika, Kalziumantagonisten, Antidepressiva) nicht wirksam waren, nicht vertragen wurden oder wenn gegen deren Einnahme Kontraindikationen oder Warnhinweise bestehen. Bei Patienten mit chronischer Migräne wird empfohlen, dass diese zusätzlich auf eine Therapie mit Onabotulinumtoxin A nicht angesprochen haben [9–11]. Für Erenumab stellte der G-BA in einer Neubewertung auf Grundlage der HER-MES-Studie 2021 einen Anhaltspunkt für einen beträchtlichen Zusatznutzen fest [12]. Eine budgetneutrale Verordnung von Erenumab im Rahmen einer bundesweiten Praxisbesonderheit ist anerkannt, wenn mindestens eine Vortherapie (Metoprolol, Propranolol, Topiramat, Amitriptylin, Flunarizin oder OnabotulinumtoxinA) nicht wirksam war bzw. nicht vertragen wurde oder Kontraindikationen gegen alle diese Wirkstoffe bestehen [4].

Wenn nach drei Monaten kein befriedigender Therapieeffekt vorliegt, sollte die Behandlung beendet werden, bei Eptinezumab wird ein Beobachtungszeitraum von sechs Monaten empfohlen. Die Wirksamkeit der monoklonalen Antikörper ist im indirekten Vergleich nicht höher als jene der bisher verfügbaren Wirkstoffe zur Migräneprophylaxe [13–15]. Hinsichtlich der Verträglichkeit und Adhärenz scheinen die monoklonalen Antikörper gegenüber bisher verfügbaren Wirkstoffen jedoch deutlich vorteilhaft zu sein [4]. Relevante Nebenwirkungen sind sehr selten, gelegentlich treten lokale Reaktionen an der Injektionsstelle und Obstipation auf [4]. Vorsichtshalber sollten die monoklonalen Antikörper nicht bei Patienten mit schweren kardiovaskulären Erkrankungen und Autoimmunerkrankungen eingesetzt werden.

Daten, die einen direkten Vergleich der monoklonalen Antikörper untereinander ermöglichen, liegen nicht vor. Ein indirekter Vergleich der Wirksamkeit der monoklonalen Antikörper ist erheblich erschwert, da die Reduktion der Migränetage um mindestens 50 % als Endpunkt in den verschiedenen Zulassungsstudien auf verschiedene Arten berechnet wurde [16]. Unkontrollierte Studien weisen darauf hin, dass bei Versagen des CGRP-Antagonisten Erenumab ein Therapieversuch mit einem CGRP-Rezeptorantagonisten (Galcanezumab, Fremanezumab, Eptinezumab) und vice versa sinnvoll sein kann [4, 17].

Bisher liegt lediglich eine Studie vor, die einen monoklonalen Antikörper mit einem oralen zur Migräneprophylaxe zugelassenen Wirkstoff vergleicht: In einer doppelblinden Therapiestudie bei Patienten mit episodischer bzw. chronischer Migräne führte Erenumab zu einer stärkeren Reduktion von Migränetagen und zu einer geringeren Abbruchrate wegen Nebenwirkungen als Topiramat [18]. Allerdings wurde in der erneuten Nutzenbewertung von Erenumab das Design der Studie kritisiert, da die Studienmedikation bei Auftreten von Nebenwirkungen nicht reduziert werden konnte, die Zieldosis im Topiramat-Arm vorgegeben war, im Erenumab-Arm dagegen individuell gewählt werden konnte und bei Abbruch der Studientherapie im Topiramat-Arm kein alternativer, zur Migräneprophylaxe zugelassener Wirkstoff eingenommen werden konnte. Die hohe Abbruchrate im Topiramat-Arm führte dazu, dass ein großer Anteil der Patienten, die eine Vergleichstherapie erhielten, über den längsten Zeitraum der Erhaltungsphase unbehandelt war [12]. Diese Faktoren führen zu einem Bias, der den Topiramat-Arm der Studie benachteiligt.

Chronische Migräne

Eine Sonderstellung nimmt die medikamentöse Prophylaxe der chronischen Migräne ein, für die neben den vier in der EU zugelassenen monoklonalen Antikörpern lediglich Topiramat und Botulinumtoxin zugelassen sind. Für andere, bei der episodischen Migräne nachweisbar wirksame Migräneprophylaktika ist die Studienlage hinsichtlich der chronischen Migräne unzureichend [4].

Klinische Praxis

Die Versorgungspraxis in Deutschland wird durch eine große Beobachtungsstudie dargestellt, die 243.471 Patienten mit Migräne einschloss, die zwischen 2008 und 2016 behandelt wurden [19]. 22,3 % der Patienten erhielten mindestens ein Rezept für einen für die Migräneprophylaxe zugelassenen Wirkstoff oder Valproinsäure. Bei Patienten mit komplizierter Migräne (einschließlich chronischer Migräne) war dies bei 38,0 % der Fall. Mit Abstand am häufigsten wurden Betablocker verordnet (53,8 %), vermutlich jedoch bei den meisten Patienten mit internistischer Indikation und nicht primär als Migräneprophylaxe. Nur wenigen Patienten (4,0 %) wurde mehr als ein zur Migräneprophylaxe zugelassener Wirkstoff oder Valproinsäure verordnet. In einer weiteren epidemiologischen Studie nahmen nur 2,4 % der Teilnehmer in Deutschland mit mindestens fünf Migränetagen pro Monat eine medikamentöse Prophylaxe ein [20].

Fazit

Bei Migräne bestehen häufig ein hoher Leidensdruck sowie Einschränkung der Lebensqualität und das Risiko eines Medikamentenübergebrauchs. Die Indikation für eine medikamentöse Prophylaxe ist individuell zu stellen, dabei sollten realistische Therapieziele und potenzielle Nebenwirkungen der Arzneimittel gegeneinander abgewogen werden. Bei der Verordnung sind zudem die jeweiligen Zulassungen der Arzneimittel zu berücksichtigen. Für die monoklonalen Antikörper – Erenumab, Fremanezumab, Galcanezumab und Eptinezumab – sind Einschränkungen hinsichtlich der Verordnungsfähigkeit zu beachten, die sich aus den Beschlüssen des G-BA ergeben.

PD Dr. med. Michael von Brevern, Berlin, E-Mail: von.brevern@mail.de

Die Literaturhinweise finden sich hier. Interessenkonflikte: Der Autor erklärt, keine Interessenkonflikte zu haben.