In Europa ist Krieg, Hunderttausende sind auf beiden Seiten gefallen, die genauen Zahlen gelten als Kriegsgeheimnis. Die Pandemie ist vorüber, die Sommer werden immer heißer. Im Lichte dieser Entwicklungen erweisen sich unsere Kammerwahl und auch die nahende Landtagswahl in Hessen auf den ersten Blick eher als von marginaler Bedeutung.

„Es geht um die Erhaltung einer feingliedrigen, wohnortnahen, individualisierten Krankenversorgung.“

Ambulante Versorgung wird von der Politik liegengelassen

Unsere Aufgabe an dieser Stelle ist, uns mit den Bedingungen der Patientenversorgung und unserer Berufsausübung in Hessen und in Deutschland zu beschäftigen. Die Rahmen sind per Gesetz vorgegeben. Doch die Zeiten wandeln sich. Viele Gesetze werden neu geschrieben oder eben auch mal nicht. In Sachen GOÄ scheint die Zeit seit 30 Jahren still zu stehen, als ob die Bundesregierung sich weigern würde, ihrer Aufgabe und Verantwortung nachzukommen und per Rechtsverordnung die GOÄ endlich zu aktualisieren. Sie tut es nicht. Dafür soll die ganze Krankenhauslandschaft zügig umgepflügt werden, bis zu einem Drittel der Krankenhäuser seien überflüssig, ohnehin schrieben sie ja schon rote Zahlen ...

Die ambulante Versorgung wird in den Plänen der Politik im großen weiten Bogen liegengelassen.

Zwar lamentiert man permanent über Ärzte- und Fachkräftemangel, man sinniert über Gesundheitskioske, versucht ärztliche Leistungen zu delegieren und zu virtualisieren. Von den aktuell 421.300 berufstätigen Ärztinnen und Ärzten in Deutschland sind 165.700 im ambulanten Bereich tätig, davon 55.600 (!) im Angestelltenverhältnis. Im Jahr 2012 waren erst 20.900 in der Anstellung, Tendenz nach wie vor stark ansteigend (BÄK-Ärztestatistik 2022). Das bedeutet, dass unter den gegebenen Rahmenbedingungen immer weniger junge Ärztinnen und Ärzte bereit sind, das Risiko der wirtschaftlichen Selbstständigkeit (unternehmerisches Risiko) in eigener Praxis auf sich zu nehmen. Veraltete Gebührenordnungen, die die Realität nicht mehr abbilden, schwankende, nicht planbare Honorarumsätze, Regressdrohungen, wuchernde Bürokratie schrecken ab.

Auch die Selbstausbeutung mit 60–65 Wochenarbeitsstunden ist nicht mehr zeitgemäß, die Jugend orientiert sich an der 40-Stunden-Woche mit Tarifvertrag. Die immer weniger werdenden Praxisinhaber müssen aber mit ihrem stagnierenden Honorarumsatz die Tarifsteigerungen ihrer Angestellten bedienen. Inflation und steigende Energiekosten kommen hinzu. Selbst Medizinische Versorgungszentren klagen über wirtschaftliche Schwierigkeiten und drohende Insolvenz. Die Stunde der Investoren scheint gekommen: Quersubvention via Kapitalmarkt oder Steuermittel, kleine Fische – große Fische ...

Gefahr für persönliche Arzt-Patienten-Beziehung

Bei dieser Entwicklung sehe ich die Gefahr, dass die ambulante Versorgung in Großbetrieben unter und die persönliche Arzt-Patienten-Beziehung verloren geht. Ist das politisch gewollt?

Es geht um die Erhaltung einer feingliedrigen, wohnortnahen, individualisierten Krankenversorgung. Ausschließlich auf große Fallzahlen basierte Wirtschaftlichkeits- und Qualitätsüberlegungen bilden den reellen Bedarf verzerrt ab. Aus der Perspektive einer Großmutter vom Dorf oder im Wohngebiet am Stadtrand gestaltet sich die Problemstellung der Gesundheitsreform überschaubar. Sie möchte Ärzte oder Ärztinnen in ihrer Nähe haben, die sie persönlich kennt und den sie aus eigener Kraft, am besten fußläufig, mit ÖPNV noch erreichen kann. Bekommt sie sie?

Michael Andor, Mitglied des Präsidiums der Landesärztekammer Hessen